Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
        3.1.1 Zum Einstieg: Das Condorcet-Paradox
        3.1.2 Das sogenannte „Paradox des Liberalismus“
        3.1.3 Der „Klassiker“ der Sozialwahltheorie: Der Satz von Arrow
            3.1.3.1 Das Theorem
            3.1.3.2 Der Beweis des Theorems
            3.1.3.3 Ein alternativer Beweis
            3.1.3.4 Ein dritter Beweis
            3.1.3.5 Resumé
        3.1.4 Aufgaben
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3.1.3.4 Ein dritter Beweis

Der folgende Beweis stammt aus dem Buch von Resnik (Resnik 1987, S. 186ff.). Der Beweis ähnelt sehr stark dem ersten hier vorgestellten Beweis. Nur wird diesmal nicht zuerst gezeigt, dass es eine Teilmenge von Individuen gibt, die beinahe entscheidend für alle Alternativen ist und dann, dass sie tatsächlich nur aus einem Individuum besteht. Sondern es wird zuerst gezeigt, dass es ein Individuum gibt, dass für eine Alternative beinahe entscheidend ist, und dann, dass daraus folgt, dass dieses Individuum für alle Alternativen nicht nur beinahe sondern vollständig entscheidend ist. Die einzelnen Beweisschritte sind aber zum Teil ähnlich wie beim ersten Beweis, so dass die Lektüre des zweiten Beweises gut zur Übung und zum besseren Verständnis dienen kann.

Zunächst wird folgendes Lemma bewiesen:

Lemma 1: Es existiert immer ein Individuum, das für irgendein Paar von Alternativen beinahe entscheidend ist.

Beweis: Wie oben angemerkt existieren „entscheidende“ Mengen für jedes Paar von Alternativen. Da jede „entscheidende“ Menge immer auch „beinahe entscheidend“ ist, existieren für jedes Paar von Alternativen auch beinahe „entscheidende“ Mengen.

Wir setzten voraus, dass die Menge der Individuen und Alternativen endlich ist. Dann existiert wenigstens eine „beinahe entscheidende“ Menge, die keine echte Teilmenge enthält, die „beinahe entscheidende“ Menge wäre, denn: Man beginne mit irgend einer beliegigen „beinahe entscheidenden“ Menge. Hat diese Menge noch (nicht-leere) Teilmengen, die „beinahe entscheidende“ Mengen sind, dann wähle man irgend eine dieser „beinahe entscheidenden“ Teilmengen und stelle für diese Teilmenge dieselbe Untersuchung an, solange bis man bei einer Menge angekommen ist, die keine echten Teilmengen mehr enthält, die ihrerseits „beinahe entscheidende“ Mengen irgendeines Paares von Alternativen sind.

Wir verfügen damit über eine „minimale Menge“, die „beinahe entscheidend“ bezüglich eines bestimmten Paares von Alternativen ist. Wenn wir zeigen können, dass diese „minimale Menge“ nur noch ein einziges Individuum enthält, dann haben wir das Lemma bewiesen. Dazu kann ein Widerspruchsbeweis geführt werden. Wir nehmen also an, es gäbe eine entsprechende „minimale beinahe entscheidende Menge“, die mehrere Individuen enthält und zeigen, dass diese Annahme zu einem Widerspruch führt.

Angenommen also, sei eine „minimale beinahe entscheidende Menge“ für die Alternative über , die mehrere Individuen enthält. Man betrachte ein beliebiges Individuum aus der Menge . Da die Menge mehr Individuen als nur enthält, und da möglicherweise noch ein „Rest“ von Individuen existiert, die nicht zu gehören, kann man folgende drei unterschiedlichen Gruppierungen betrachten: 1) Die Menge, die nur aus dem Individuum besteht. 2) Die Menge, die aus den Individuen von ohne besteht, kurz: . 3) Der „Rest“, d.h. alle Individuen, die nicht zu gehören.

Da jedes beliebige Präferenzprofil zugelassen ist („unbeschränkter Bereich“) und sich die Eigenschaft eine (minimale) „beinahe entscheidende“ Menge zu sein auf alle Präferenzprofile bezieht, muss sie sich auch bei jedem beliebigen einzelnen Präferenzprofil bewähren. Man nehme an, dass es mindestens drei Güter gibt und betrachte nun folgendes Präferenzprofil:

Rest


Quelle: (Resnik 1987, S. 188)

Da eine „beinahe entscheidende“ Menge für über ist und in diesem Präferenzprofil für alle Mitglieder von gilt: , und alle Nicht-Mitglieder gilt: , so muss die Wohlfahrtsfunktion diesem Präferenzprofil kollektive Präferenzen zuordnen, bei denen gilt. Darüber hinaus muss die Wohlfahrtsfunktion natürlich auch festlegen, welche Beziehung (, oder ) zwischen und zu gelten hat. Wir betrachten die drei Möglichkeiten im Einzelnen, und zeigen, dass jede davon zu einem Widerspruch führt. Dabei ist zu beachten, dass wir nicht ausgeschlossen haben, dass die Menge „Rest“ leer sein kann. Die folgenden Argumente funktionieren aber (wovon man sich leicht überzeugen kann) auch in dem Fall, dass die „Rest“-Gruppe leer ist.

  1. Angenommen nach der Wohlfahrtsfunktion gilt für dieses Präferenzprofil . Dann muss die Wohlfahrtsfunktion nach der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen auch für alle anderen Präferenzprofile liefern, nach denen und für jedes Individuum in derselben Weise relativ zueinander geordnet sind wie in dem gegebenen Präferenzprofil. Damit liefert die Wohlfahrtsfunktion aber immer , wenn für alle Individuen in gilt und für alle Individuen, die nicht in enthalten sind . Damit ist aber „beinahe entscheidende“ Menge für über . Nach der Konstruktion von hätte als „minimale beinahe entscheidende Menge“ (für über ) aber keine Teilmenge mehr enthalten dürfen, die noch „beinahe entscheidende“ Menge irgendeines Paars von Alternativen ist. Also liegt hier ein Widerspruch vor, so dass die Möglichkeit, dass die Wohlfahrtfunktion dem oben stehenden Präferenzprofil kollektive Präferenzen zuordnet, die enthalten, ausgeschlossen ist.
     
  2. Angenommen, die Wohlfahrtsfunktion legt für dieses Präferenzprofil fest. Dann ergibt sich, da bereits gilt, dass auch . Da aber gegenüber vorzieht, während alle anderen Individuen gegenüber vorziehen, wäre nach dem gleichen Argument wie im 1.Fall beinahe entscheidend für die Alternative über , was ebenfalls der Minimalität von widerspricht. Damit scheidet die zweite Möglichkeit auch aus.
     
  3. Angenommen, die Wohlfahrtsfunktion liefert . Dann gilt wegen und der Transitivität der Präferenzrelation auch . Dann liegt aber wiederum der Fall vor, dass bei dem oben angegebenen Präferenzprofil für gilt: , aber für alle anderen Individuen: , woraus sich mit Hilfe der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen wiederum ergibt, dass „beinahe entscheidend“ für ist, im Widerspruch zur Minimalität von . Auch diese Möglichkeit scheidet aus.

Da alle Möglichkeiten zum Widerspruch führen, kann die Wohlfahrtsfunktion die individuellen Präferenzen nicht auf kollektive Präferenzen abbilden, sofern die minimale „beinahe entscheidende“ Menge noch mehr als ein Individuum enthält.

Das erste Lemma scheint alleine noch nicht viel zu besagen, denn von dem Individuum, aus dem die Menge am Ende besteht, ist zunächst nur bewiesen, dass es lediglich beinahe entscheidend ist, und auch das nur für ein Paar von Alternativen. Ein zweites Lemma zeigt aber, dass weit mehr dahinter steckt:

Lemma 2: Ein Individuum, das für irgendein Paar von Alternativen beinahe entscheidend ist, ist entscheidend für jedes Paar von Alternativen.

Beweis: Wir nehmen an, dass das Individuum beinahe entscheidend für über ist. Es muss nun gezeigt werden, dass es dann auch entscheidend (und zwar nicht bloß beinahe entscheidend!) für alle Paare von Alternativen ist. Dies ist dann bewiesen, wenn wir zwei weitere Alternativen und in die Betrachtung einbeziehen und beweisen können, dass in folgenden sieben Fällen entscheidend ist: 1) über ; 2) über ; 3) über ; 4) über ; 5) über ; 6) über ; 7) über .

Da und beliebig wählbar sind, schließt der Beweis automatisch („ohne Beschränkung der Allgemeinheit“) alle weiteren Alternativen mit ein, die es außer und noch geben könnte. Gibt es außer und nur noch eine oder gar keine weiteren Alternativen, dann fallen nur einige der betrachteten Fälle weg, und der Beweis gilt trotzdem. Aus Gründen der Konvenienz werden in dem folgenden Beweis die Fälle in einer anderen Reihenfolge behandelt (vgl. (Resnik 1987, S.190/191)). Nun zu den Fällen im Einzelnen:

  1. Fall über : Wir betrachten das Präferenzprofil, in dem die Alternativen und in der Reihenfolge ordnet, und in denen die anderen Individuen die Alternative sowohl als auch vorziehen, wobei zwischen und jede mögliche Reihenfolge zugelassen sei.

    Da nach Voraussetzung beinahe entscheidend für über ist, muss die Wohlfahrtsfunktion bei einem solchen Profil liefern. Da aber ebenfalls für alle Individuen gilt, muss auf Grund der Bedingung der Pareto-Effizienz auch die Wohlfahrtsfunktion für ein derartiges Präferenzprofil liefern. Da aber schon gilt, liefert die Sozialwahlfunktion aufgrund der Transitivität von Präferenzen auch . Auf Grund der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen gilt aber, dass die Wohlfahrtsfunktion für alle Präferenzprofile liefern muss, in denen und in derselben Weise relativ zueinander geordnet sind, wie in dem betrachteten Beispiel. In dem Beispiel hat aber vor eingeordnet, während bei allen anderen Individuen die Ordnung beliebig war. Das bedeutet aber, dass die Wohlfahrtsfunktion liefert, sobald die Ordnung festlegt. Damit ist entscheidend (nicht bloß nahezu entscheidend!) für über .

     
  2. Fall über : Wir betrachten das Präferenzprofil, in dem für die Präferenz gilt, und in dem für alle anderen Individuen und gilt, d.h. in dem und der Alternative vorgezogen werden, während die Reihenfolge zwischen und nicht festgelegt sein soll.

    Weil beinahe entscheidend für über ist gilt, dass die Wohlfahrtsfunktion bei den angenommenen Präferenzen liefert. Aufgrund der Einstimmigkeit (Pareto-Effizienz) muss die Wohlfahrtsfunktion aber auch festlegen. Aufgrund der Unabhängigkeit von dritten Alternativen gilt das letztere wann immer die Präferenz enthält. Damit ist aber entscheidend für über .

     
  3. Fall über : Betrachtet sei folgendes Präferenzprofil: Für gilt ; für alle anderen gilt .

    Gemäß der Bedingung der Pareto-Effizienz liefert die Wohlfahrtsfunktion für dieses Profil . Da entscheidend ist für über , liefert sie auch und, wegen der Transitivität der Präferenzrelation schließlich auch .

    Wiederum muss, wenn die Wohlfahrtsfunktion für ein Profil liefert, in dem die Alternative vor stellt, während die Ordnung von und für die anderen Individuen nicht festgelegt ist, auf Grund der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen die Wohlfahrtsfunktion bei allen Profilen liefern, die und in derselben Weise ordnen, d.h. bei allen Profilen, in denen für gilt: . Damit ist aber entscheidend für über .

     
  4. Fall über : Man betrachte zunächst das Profil, in dem für gilt: , während für die anderen Individuen gilt.

    Wir wissen bereits, dass entscheidend für ist. Aufgrund der Bedingung der Pareto-Effizienz liefert die Wohlfahrtsfunktion aber auch . Analog zu den vorhergehenden Fällen können wir daraus mit Hilfe der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen ableitent, dass entscheidend für über ist.

     
  5. Fall über : Wir betrachten das Profil, in dem für gilt: . Wir wissen bereits, dass entscheidend für und ebenso für ist. Also muss die Wohlfahrtsfunktion für dieses Profil liefern. Analog zu den vorhergehenden Fällen lässt sich dann mit Hilfe der Bedingung der Unabhängigkeit von dritten Alternativen schließen, dass entscheidend für ist.
     
  6. Fall über : Wie im vorhergehenden Fall, nur dass diesmal und vertauscht sind.
     
  7. Fall über : Wir betrachten ein Profil, in dem für gilt . Analog zu dem vorhergehenden Fall, können wir dann zeigen, dass entscheidend für über ist.

In jedem der Fälle ist also „entscheidend“, womit das zweite Lemma bewiesen ist. Aus dem ersten und dem zweiten Lemma ergibt sich zusammengenommen der Satz von Arrow, der damit ebenfalls bewiesen ist.

t g+ f @