Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
        3.3.1 Historische Beispiele
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“

Bereits einige Jahre zuvor und sehr viel wirkungsmächtiger hat William Riker gestützt auf den Satz von Arrow die These vertreten, dass jedes kollektive Entscheidungsverfahren (und damit insbesondere auch alle demokratischen Entscheidungsverfahren) in vielfach chaotisch, von Zufällen bestimmt, kurz, in hohem Grade sinnlos sind:

The main thrust of Arrow's theorem and all the associated literature is that there is an unresolvable tension between logicality and fairness. To guarantee an ordering or a consistent path, independent choice requires that there be some sort of concentration of power (dictators, oligarchies or collegia of vetoers) in sharp conflict with democratic ideals.

These conflicts have been investigated in great detail, especially in the last decade; but no adequate resolution of the tension has been discovered, and it appears quite unlikely that any will be. The unavoidable inference is, therefore, that, so long as a society preserves democratic insitutions, its members can expect that some of their social choices will be unordered or inconsistent. And when this is true, no meaningful choice can be made. If is in fact chosen - given the mechanism of choice and the profile of individual valuations - then to say that is best or right or more desired is probably false. But it would also be equally false to say that is best or right or most desired. And in that sense, the choice lacks meaning. (Riker 1982, S. 136)

William Riker steht mit dieser Auffassung keineswegs allein. Auch wenn er sie in einer vergleichsweise scharfen Form vertritt, so handelt es sich dabei um eine Konsquenz, die von zahlreichen Autoren aus dem Satz von Arrow gezogen wird (Mackie 2003, S. 10-15)[45] Diese Sichtweise ist von Rikers Kritiker Gerry Mackie als die These des „demokratischen Irrationalismus“ bezeichnet worden. Riker selbst, der sich - durchaus glaubwürdig - als liberaler Demokrat verstand, hat diese Bezeichnung nicht gebraucht, sie trifft seine These aber sehr gut. Riker geht nicht soweit, demokratische Entscheidungsverfahren grundsätzlich abzulehnen, aber seiner Ansicht nach müssen wir ihren Sinn und ihre Funktion anders verstehen. Der Sinn demokratischer Wahlen liegt für ihn nicht darin, dem Willen der Mehrheit politisch Geltung zu verschaffen, sondern er allein darin, dass durch das Instrument der Wahl die Führung abgewählt und von Zeit zu Zeit ausgewechselt werden kann. Der Sinn demokratischer Wahlen erschöpft sich für ihn also allein in der Funktion der Machtkontrolle. Diese sehr reduzierte Deutung demokratischer Wahlen hat zugleich die Nebenwirkung, politischen Entscheidungen in der Demokratie ihre Legitimität zu entziehen, da ja nicht mehr gut behauptet werden kann, dass sie durch den Mehrheitswillen legitimiert sind.

Ähnlich wie Nida-Rühmelin glaubt Riker, dass seine These wesentelich anylitscher Natur ist, und sich im Wesentlichen durch die mathematische Analyse von Wahlverfahren begründen lässt. Dennoch liefert er auch eine Reihe historischer Beispiele, die seine These stützen sollen.

Im einzelnen beruht Rikers These auf folgenden Punkten:

  1. Nicht-Existenz einer wahren sozialen Wahl: Es gibt kein Wahlverfahren, dass alle Bedingungen der Fairness und Konsistenz erfüllt. Unter denen, die sie nicht erfüllen, gibt es mehrere gleich gute bzw. gleich schlechte Verfahren, die aber in bestimmten Fällen, von denen Riker glaubt, dass sie recht häufig vorkommen, jeweils andere Ergebnisse liefern, so dass man von keiner Methode sagen kann sie liefere die „wahre“ soziale Wahl. (Riker 1982, S. 111ff.)
     
  2. Sinnlosigkeit der sozialen Wahl: Bei allen demokratischen Entscheidungsverfahren, werden einige Entscheidungen ungeordnet oder inkonsistent sein (intransitive kollektive Präferenzen!). In diesem Fall ist die soziale Wahl sinnlos. (Riker 1982, S. 136ff.)
     
  3. Verdeckung der wahren Präferenzen durch strategisches Wahlverhalten: Durch „startegisches Wählen“ verdecken die Akteure ihre wircklichen Präferenzen, so dass am Ende nicht mehr deutlich ist, inwiefern eine getroffene soziale Entscheidung Ausdruck der wirklichen Präferenzen der Individuen ist. (Riker 1982, S. 167ff.)
     
  4. Manipulationsanfälligkeit der sozialen Wahl: Viele demokratische Wahlverfahren erweisen sich als manipulationsanfällig (z.B. durch die Einführung „irrelevanter“ Alternativen, sofern es sich um Verfahren handelt, die die Bedingung der paarweisen Unabhängigkeit verletzen). Auch dies erschüttert die Glaubwürdigkeit der sozialen Wahl. (Riker 1982, S. 192ff.)

Im folgenden sollen - im Wesentlichen anhand der Kritik Mackies (Mackie 2003) - die ersten beiden Punkte einer (vorwiegend) theoretischen Kritik unterzogen werden und die letzten beiden Punkte anhand historischer Beispiele untersucht werden.

HIER FEHLT NOCH EIN TEIL DES KAPITELS !!!

[45] Dies könnte vielleicht auch damit zusammen hängen, dass die meisten dieser Autoren aus dem ökonomischen Spektrum stammen und in der Staatsphilosophie die liberalen Werte höher als die demokratischen schätzen.

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