Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
        3.1.1 Zum Einstieg: Das Condorcet-Paradox
        3.1.2 Das sogenannte „Paradox des Liberalismus“
        3.1.3 Der „Klassiker“ der Sozialwahltheorie: Der Satz von Arrow
        3.1.4 Aufgaben
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen

3.1 Sozialwahltheorie

Bisher haben wir uns nur mit individuellen Entscheidungen beschäftigt. Für die Anwendung der Theorie ist es dabei weniger wichtig, ob die Akteure bzw. „Agenten“ tatsächlich einzelne Individuen sind, oder ob sie etwa Gruppen oder Körperschaften sind. Entscheidend ist, dass sie über eine ganz bestimmte Präferenzrelation verfügen, die die Bedingungen für Präferenzrelationen erfüllt, also Ordnung, Transitivität etc. (siehe Kapitel 2.2.2, ab Seite 2.2.2). Die Sozialwahltheorie beschäftigt sich nun genau mit der Frage, wie eine Gruppe von Individuen kollektive Entscheidungen treffen kann, wenn man noch nicht von vornherein eine kollektive Präferenzrelation als gegeben betrachtet. Man könnte auch sagen, dass das Problem bzw. eines der Hauptprobleme der Sozialwahltheorie darin besteht, wie man individuelle Präferenzen auf kollektive Präferenzen abbilden kann. Um ein Problem handelt es sich insofern, als die individuellen Präferenzen einer Gruppe von Menschen höchst unterschiedlich beschaffen sein können, selbst wenn man einmal annimmt, dass jedes Mitglied der Gruppe über eine im Sinne der Theorie gültige Präferenzrelation verfügt. Wie wir sehen werden, kann es zu Schwierigkeiten kommen, wenn man daraus eine kollektive Präferenzrelation ableiten will, die immer noch die Bedingungen einer wohlgeordneten Präferenzrelation erfüllt.

Die individuellen Präferenzen sämtlicher Individuen zusammengenommen, bezeichnet man auch als „Präferenzprofil “. Ein Präferenzprofil ist also eine Menge von individuellen Präferenzrelationen. Die Abbildung des Profils von individuellen Präferenzrelationen auf eine einzelne kollektive Präferenzrelation nennt man eine „soziale Wohlfahrtsfunktion“ oder, im Zusammenhang der Entscheidungstheorie, auch ein „ Kollektiventscheidungsverfahren“. Mathematisch betrachtet haben wir es dabei mit folgenden Gegenständen zu tun:

  1. Mit einer Menge von Alternativen oder Güterbündeln, die jeweils mit kleinen Buchstaben bezeichnet werden. Die Menge aller auf möglichen Präferenzrelationen soll mit bezeichnet werden. (Für die definierenden Eigenschaften einer gültigen Präferenzrelation siehe 2.2.2.)
     
  2. Mit einer bestimmten Anzahl von Individuen , die mit Großbuchstaben vom Anfang des Alphabets bezeichnet werden. Die Individuen kann man sich durchnummeriert denken, so dass man sinnvollerweise statt von , oder auch vom ersten, zweiten oder dritten Individuuem oder ganz allgemein vom „-ten Individuuem“ sprechen kann.
     
  3. Mit individuellen Präferenzrelationen, wobei jedes Individuum natürlich eigene Präferenzen hat. Um anzuzeigen, wessen Präferenzen gemeint sind, kann man einen Index an das Präferenzzeichen anhängen, d.h. , bedeutet, dass das -te Individuum gegenüber vorzieht. Die gesammte Präferenzrelation eines Individuums kann man mit bezeichnen.
     
  4. Mit einer kollektiven Präferenzrelation, d.i. diejenige Präferenzrelation, die später für das Kollektiv gelten soll, und die, solange nichts Näheres darüber bestimmt ist, völlig unabhängig von den individuellen Präferenzen ist. Um zu kennzeichnen, dass kollektive Präferenzen gemeint sind, wird der Index an das Präferenzzeichen angehängt, also etwa . Die gesamte kollektive Präferenzrelation wird wiederum mit bezeichnet.
     
  5. Mit Profilen von individuellen Präferenzen. Ein Profil ist dabei ein Tupel von individuellen Präferenzrelationen, in der für jedes Individuum genau eine Präferenzrelation festgelegt ist. Wenn wir ein beliebiges Präferenzprofil mit bezeichnen, dann gilt . Zwei Präferenzprofile unterscheiden sich dann, wenn mindestens ein Individuum in andere Präferenzen hat als in . (Und es hat andere Präferenzen, wenn es wenigstens bezüglich eines Paars von Alternativen eine andere Ordnung vornimmt.)
     
  6. Mit der Menge aller möglichen Präferenzprofile , die, wie der Name schon sagt, jedes nur denkbare Profil von wohlgeordneten individuellen Präferenzen enthält.

Eine Kollektiventscheidungsverfahren (auch „soziale“ bzw. „gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion“ oder einfach „Sozialwahlfunktion“) ist nun eine Funktion , die jedem Präferenzprofil eine „kollektive“ Präferenzrelation zuordnet. Man kann auch schreiben: , wobei ein bestimmtes Präferenzprofil ist, und diejenige Präferenzrelation, die diesem Profil durch die Sozialwahlfunktion zugeorndet wird.

Mit Hilfe dieses technischen Apparats kann die Frage untersucht werden, welche Entscheidungs- bzw. Abstimmungsprozeduren zum Treffen von Kollektiventscheidungen geeignet sind. Z.B. kann man damit die Frage untersuchen, ob die Entscheidung nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip zu effizienten, gerechten und konsequenten Kollektiventscheidungen führt. Dazu müssen die entsprechenden Anforderungen an eine Sozialwahlfunktion (Effizienz, Gerechtigkeit etc.) natürlich zunächst mathematisch umschrieben werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Sozialwahltheorie keineswegs die einzige Theorie ist, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Vielmehr werden die entsprechenden Fragen in der politischen Philosophie schon seit der Antike thematisiert, und schon längst bevor es die Sozialwahltheorie als eigenes Fachgebiet gab, sind auf viele der von ihr untersuchten Probleme praxistaugliche Lösungen gefunden worden. Was die Sozialwahltheorie von früheren Ansätzen unterscheidet ist der formale mathematische Rahmen, in dem sie diese Probleme untersucht. Leider erweist sich dieser formale Rahmen nicht immer als ein Vorteil, indem viele wichtige Probleme und Fragestellungen, die im Zusammenhang mit kollektiven Entscheidungsprozessen stehen, sich innerhalb dieses Rahmens entweder überhaupt nicht oder nicht adäquat artikulieren lassen. Die Sozialwahltheorie gibt nur einen ganz bestimmten Blickwinkel auf solche Phänomene wie das der demokratischen Mehrheitsentscheidung frei. Was z.B. weitgehend ausgespart bleibt, sind sogenannte „deliberative“ Prozesse, also diejenigen Vorgänge, in denen sich - in der ökonomistischen Sprache formuliert - die Präferenzen der Individuen in Folge von öffentlichen Diskussionen veränderen, aneinander anpassen oder sich dissozieren und in Lager aufteilen. Und in einer nicht ökonomistischen Sprache formuliert, sind deliberative Prozesse all diejenigen Diskussions- und Meinungsbildungsprozesse, die, besonders in Demokratien, politischen Entscheidungen oder Abstimmungen voraus zu gehen pflegen. Will man ein richtiges und vollständiges Bild von der Natur demokratischer politischer Entscheidungsprozesse gewinnen, so ist die Sozialwahltheorie allein dafür völlig unzureichend und sollte unbedingt durch andere Theorien, z.B. solche, die deliberative Prozesse zum Gegenstand haben, ergänzt werden. Zur klassischen politischen Philosophie steht die Sozialwahltheorie also bestenfalls im Verhältnis einer Ergänzung. Keineswegs handelt es sich dabei um eine „streng wissentschaftliche“ Alternative, die die traditionelle politische Philosophie ablösen oder ersetzen könnte.

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