Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie |
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Als nicht weniger problematisch als der Zusammenhang von spirituellem Realitätsverlust und politischem Chaos erweist sich die Begründungsproblematik von Voegelins Realitätsbegriff. Woher kann man wissen, dass das, was Voegelin über die metaphysische Seinsrealität sagt, wahr ist? Aus Voegelins Gedankengang heraus müsste darauf die Antwort gegeben werden, dass sich diese Wahrheit aus der Erfahrung ergibt, wobei unter Erfahrung nicht die Sinneserfahrung sondern entweder jenes innere Erleben der „noetischen“ Erfahrung oder die mythische „Primärerfahrung“ zu verstehen ist. Hier stellt sich jedoch ein unlösbares Problem: Indem Voegelin zugibt, dass es unterschiedliche Erfahrungen gibt, denen unterschiedliche Realitätsbilder entsprechen, wie kann dann die Erfahrung noch ein Kriterium für die Wahrheit (oder größere „Differenziertheit“) einer bestimmten Auffassung der „Realität“ abgeben? Auf diese Frage gibt Voegelins Bewusstseinsphilosophie keine Antwort.
An anderer Stelle, in seinem Aufsatz „Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte“, behauptet Voegelin, dass sich seine Aussagen über das Wesen der Realität geschichtlich überprüfen lassen.[269] Die Aussagen dürfen nach Voegelins Ansicht dann als gültig angesehen werden, wenn sie sich auf die Geschichte beziehen, ohne „einen erheblichen Teil des geschichtlichen Feldes ignorieren oder im Dunkeln lassen“[270] zu müssen, und wenn sie „erkennbar äquivalent mit den Symbolen [sind], die unsere Vorgänger in der Suche nach der Wahrheit der menschlichen Existenz geschaffen haben“.[271] Dieses Prüfungskriterium ist offensichtlich zirkulär, weil bereits zuvor bekannt sein müsste, welche Symbole der „Vorgänger“ echte Erfahrungssymbole sind, welche allein in die Prüfung einbezogen werden dürfen.[272] Dieser Zirkelschluss lässt sich auch nicht zu einem hermeneutischen Verstehenszirkel erweitern, denn abgesehen davon, dass der hermeneutische Zirkel höchstens die innere Folgerichtigkeit der schrittweise verfeinerten Deutung gewährleistet, treten in Voegelins Geschichtsbild zwei Symboltraditionen auf (die Tradition der echten Symbole und die Tradition der Entgleisungen), die höchstwahrscheinlich beide die Grundlage eines hermeneutischen Zirkels mit jeweils symmetrischen Stärken und Schwächen bilden können. Darüber hinaus sind die Kriterien, die Voegelin anführt, nur dann ihrem Zweck angemessen, wenn bereits zuvor als metaphysisches Postulat vorausgesetzt wird, dass die Geschichte der Ausdruck des Prozesses der Realität des Partizipierens ist, und dass die Symbole Ausdruck der menschlichen Erfahrung des Partizipierens sind. Am Schluss des Aufsatzes über die „Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte“ gibt Voegelin dies auch ganz ungeniert zu.[273] Damit kann aber von einer historischen Prüfbarkeit seiner Aussagen über die Realität keine Rede mehr sein.
Im Ergebnis stellt sich also heraus, dass es bereits innerhalb der Voegelinschen Theorie weder möglich ist, die Realitätsadäquatheit von Erfahrungen festzustellen, noch die Richtigkeit von Realitätsauffassungen, einschließlich der Realitätsauffassung, die Voegelin selbst vertritt, zu beurteilen.
[269] Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 109).
[270] Ebd.
[271] Ebd.
[272] Zur Zirkularität von Voegelins Begründung der Wahrheit bestimmter Symbolismen besonders deutlich: Vgl. Eugene Webb: Philosophers of Consciousness. Polanyi, Lonergan, Voegelin, Ricoeur, Girard, Kierkegaard, Seattle and London 1988, S. 126ff.
[273] Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, a.a.O., S. 126.