Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
    5.1 Naturwissenschaft und Politikwissenschaft
    5.2 Voegelins Begriff der Realität
    5.3 Kritik von Voegelins Realitätsbegriff
    5.4 Die Theorie der sprachlichen Indizes
    5.5 Kritik von Voegelins Sprachtheorie
    5.6 Die Stufen des Ordnungswissens
    5.7 Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deutung
    5.8 Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik
    5.9 Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus
    5.10 „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen
    5.11 Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen
    5.12 Fazit
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

5.9 Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus

Es ist ziemlich offensichtlich und bedarf daher keiner ausführlichen Erörterungen, dass der Versuch, mit Hilfe des Leib-Geist Dualismus politisches Denken und soziale Gebilde zu charakterisieren, nicht gerade einen Glücksgriff theoretisch-wissenschaftlicher Erklärungskunst darstellt. Voegelin scheint sich nicht recht im Klaren darüber zu sein, dass die Ausdrücke „Leiblichkeit“ und „Leibfundament“ in den Zusammenhängen, in denen er sie verwendet, kaum mehr als Metaphern sind, die er zudem in einer recht willkürlichen und kaum nachvollziehbaren Weise mit verschiedenen politischen Theorieansätzen und Denkweisen assoziiert. Zwar mag es sein, dass Voegelin die politischen Utopien zu Recht für bedenklich erachtet. Aber mit Hinweis darauf, dass in der Utopie „das Bewußtsein von seiner Leiblichkeit frei[gesetzt]“[377] werde, lässt sich das utopische Denken ebensowenig erledigen, wie man dem Faschismus einen entscheidenden Schlag versetzt hat, wenn es einem gelingt, die Gnosis philosophisch zu widerlegen. Dass andererseits die Gesellschaftsvertragstheorien als Folge der Reduktion des Menschen auf seine Leiblichkeit und ihre Begierden zu betrachten sind, leuchtet schon deshalb nicht ein, weil der Abschluss eines Vertrages Vernunft und damit Geist und Bewusstsein voraussetzt. Voegelin hoffte wohl, mit Hilfe der ontologischen Unterscheidung Theorieansätze und Ideologien, die ihm missfielen, bereits bei einem besonders elementaren Fehlschluss ertappen zu können (so wie man manchmal insgeheim hofft, bei einem Philosophen, dessen Ansichten man verabscheut, irgendwo einen offensichtlichen Widerspruch anzutreffen). Aber aus dem Leib-Geist Dualismus lassen sich keinerlei gültige Kriterien zur Beurteilung politischer Theorien ableiten.

Auf Voegelins wissenschaftliche Programmatik, die er in diesem Abschnitt seines Aufsatzes entwickelt, und auf die Begriffe Menschheit und Geschichte braucht an dieser Stelle kein weiteres Mal eingegangen zu werden, da Voegelin kaum etwas Neues zu seinen bisherigen Begriffsbestimmungen hinzufügt. Lediglich in Bezug auf den Geschichtsbegriff ist festzuhalten, dass Voegelin offenbar versucht, sein methodisches Prinzip, dass „sich jede Untersuchung von Ordnung auf die Akte des Selbsverständnisses [einer Gesellschaft] zu konzentrieren“[378] habe, bereits aus dem Begriff der Geschichte als eines universalen Interpretationsfeldes, welches die gesamte vergangene und zukünftige Menschheit in ihrer Beziehung zum Seinsgrund umfasst, herzuleiten. Wenn jener methodische Grundsatz auch als regulatives Prinzip der Forschung mit Einschränkungen hilfreich sein kann, so erscheint dennoch der Versuch, diesen Grundsatz a priori abzuleiten und damit zum Dogma zu erheben, als überaus fragwürdig.

[377] Voegelin, Anamnesis, S. 341.

[378] Voegelin, Anamnesis, S. 345. - Dass Voegelin mit diesem Prinzip in Schwierigkeiten gerät, wenn sich herausstellt, dass die „Akte des Selbsverständnisses“ sich einmal nicht, wie Voegelin es wollte, auf die Spannung zum Seinsgrund beziehen, und das er es in diesem Fall vorzog, sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ großzügig hinweg zu setzen, wurde bereits zuvor angedeutet (siehe Seite 5.2.3). - Einen besonders krassen Fall, in dem Voegelin sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ der von ihm behandelten Philosophen hinwegsetzt, weist Hans Kelsen hinsichtlich von Voegelins Beurteilung der Absichten der französischen Enzyklopädisten in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ nach. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, S. 95/96.

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