Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
    6.1 Die ungelösten Fundamentalprobleme von Voegelins Ansatz
    6.2 Was sind Transzendenzerfahrungen?
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie

6.1 Die ungelösten Fundamentalprobleme von Voegelins Ansatz

Nach der bisherigen, sehr ins Detail gehenden Erörterung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie soll nun auf einer wiederum etwas allgemeineren Ebene eine Gesamtbilanz dessen gezogen werden, was Voegelin mit seiner Bewusstseinsphilosophie erreicht hat. Zur Erinnerung werde ich zunächst noch einmal in aller Kürze Voegelins Modell politischer Ordnung zusammenfassen, um dann zu klären, ob aus Voegelins Bewusstseinsphilosophie heraus die Fragen, die zur Begründung dieses Modells hätten geklärt werden müssen, überzeugend beantwortet werden können.

Voegelins Modell politischer Ordnung lässt sich in der allerknappsten Form wie folgt zusammenfassen: Politische Ordnung beruht auf der existenziellen Grundkonstitution des Menschen. Diese existenzielle Grundkonstitution besteht in der Spannung zum transzendenten Seinsgrund. Das Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund wird dem Menschen durch mystische Erfahrung vermittelt. Die politische Ordnung muss aus diesem Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund heraus gestaltet werden. Dann, und nur dann, kann eine gute und dauerhafte politische Ordnung entstehen. Ohne auf die weiteren Einzelheiten von Voegelins Deutung der historischen Entwicklung der Ordnungserfahrung und der Ursachen politischer Unordnung näher einzugehen, kann bereits an dieser Stelle eine Reihe von Fragen formuliert werden, die als Prüfstein der Begründungsqualität von Voegelins Modell politischer Ordnung dienen können:

Die erste und wichtigste Frage, die sich stellt, ist die, ob es einen transzendenten Seinsgrund überhaupt gibt. Wenn behauptet wird, dass der Mensch in der Spannung zum Seinsgrund existiert, dann sollte zunächst geklärt werden, ob ein solcher transzendenter Seinsgrund auch nachweislich vorhanden ist. Zur Begründung der Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes beruft sich Voegelin auf die mystische Erfahrung. Diese Begründung bleibt nicht zuletzt deshalb recht dürftig, weil Voegelin nie genau klärt, was mystische Erfahrungen sind, und wie man sie machen kann. Über das Wesen mystischer Erfahrungen wird im nächsten Unterkapitel (Kapitel 6.2) noch einiges zu sagen sein. Aber bereits unabhängig davon, was mystische Erfahrungen nun eigentlich sind und ob es sich tatsächlich um Erfahrungen von etwas Transzendentem handelt, werfen sie eine Vielzahl von Fragen auf. So stellt sich z.B. die Frage, wie zwischen richtigen und falschen Erfahrungen unterschieden werden kann. Diese Frage ist besonders deshalb prekär, weil offenbar nicht jeder Mensch mystische Erfahrungen hat. Wie können dann aber die mystischen Erfahrungen des einen Menschen für einen anderen maßgeblich sein? Dass sie es sein können ist Voegelins feste Überzeugung, denn er sagt ausdrücklich, dass alle anderen Menschen zum Zuhören verpflichtet sind, wenn einem Propheten oder Philosophen eine Erleuchtung zuteil wird.[394] Aber wie können diese Menschen, die selbst keine Erleuchtung hatten, zwischen echten und falschen Propheten unterscheiden? Dieses Problem hat bereits Thomas Hobbes aufgeworfen, und Hobbes war - anders als Voegelin - der Ansicht, dass die Weigerung, einem Propheten zu folgen, niemandem als Verstocktheit ausgelegt werden darf, denn der Betreffende leugnet durch diese Weigerung nicht Gott, sondern er zweifelt lediglich die Glaubwürdigkeit eines Menschen, nämlich des Propheten an.[395] Voegelin besteht dagegen darauf, dass echte Transzendenzerfahrungen eines Menschen für alle Menschen autoritativ sind, aber er zeigt nicht, wie das möglich ist, wenn es doch kein Mittel gibt, um ihre Echtheit zu prüfen.[396]

Mit diesen die Echtheit der Transzendenzerfahrungen betreffenden Fragen sind die Probleme von Voegelins Konzeption jedoch noch keineswegs erschöpft. Nicht weniger problematisch sind die Zusammenhänge zwischen der mystischen Erfahrung und der konkreten politischen Ordnung. Am auffälligsten erscheint hierbei, dass zwischen diesen beiden Bereichen augenscheinlich überhaupt kein Zusammenhang besteht. Wenn die mystische Erfahrung, so wie Voegelin dies unablässig beteuert, eine unerlässliche Grundlage guter politischer Ordnung ist, so müsste es doch möglich sein, aus der mystischen Erfahrung heraus Kriterien zu formulieren, die es erlauben, irgendein konkretes Ensemble politischer Institutionen zu beurteilen. Warum sind die Institutionen der amerikanischen Demokratie eher mit der Noese zu vereinbaren als die Institutionen eines faschistischen Staates wie Spanien unter der Herrschaft Francos? Es dürfte sehr schwer fallen, hier aus Voegelins metaphysischer Theorie heraus ein Urteil zu fällen. Zwar hat Voegelin es nicht an (oft sehr einseitigen) politischen Lagebeurteilungen fehlen lassen, aber selten wird dabei deutlich, wie diese sich aus den Grundsätzen seiner politischen Philosophie ergeben. Voegelin hat noch nicht einmal versucht, aus der Noese irgendwelche moralischen Prinzipien oder Tugenden herzuleiten. Dergleichen wäre ihm wohlmöglich bereits als eine dogmatische Entgleisung erschienen.[397] Aber wie kann mit Hilfe der Noese die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit gestaltet werden, wenn es noch nicht einmal möglich ist, bestimmte sittliche Prinzipien aus der Noese abzuleiten?[398]

Vor allem aber stellt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass eine auf die Noese gegründete Politik moralisch gut und den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens angemessen ist. Sofern das moralisch Gute nicht gerade durch die Noese definiert wird, was zu einer Tautologie führen würde, ist es keineswegs selbstverständlich, dass das noetisch Wahre mit dem moralisch Guten zusammenfällt. Umgekehrt liefert Voegelin keinerlei stichhaltige Gründe für seine These, dass eine gute politische Ordnung ohne die Noese ausgeschlossen ist. Voegelin scheint hier die anthropologische Annahme zu Grunde zu legen, dass ein Mensch, dessen Existenz nicht durch das noetische Wissen oder eine kompakte Vorstufe desselben geordnet ist, notwendigerweise ein Chaot sein muss. Aber Voegelin unternimmt nicht einmal ansatzweise den Versuch, die Richtigkeit dieser willkürlichen und gegenüber ungläubigen Menschen auch sehr ungerechten Annahme zu demonstrieren.

All die soeben aufgeworfenen Fragen sind nun nicht bloß irgendwelche Einzelfragen, die sich im Rahmen von Voegelins politischer Theorie nebenbei auch noch stellen. Vielmehr handelt es sich um Fundamentalprobleme, mit deren Lösung der gesamte Ansatz von Voegelin steht und fällt. Die Tatsache, dass Voegelin auf keine dieser Fragen auch nur eine halbwegs schlüssige Antwort geben kann, erlaubt daher nur eine einzige Schlussfolgerung: Voegelin ist mit seinem Versuch, die Voraussetzungen politischer Ordnung bewusstseinsphilosophisch zu begründen, auf der ganzen Linie gescheitert.

[394] Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 6.

[395] Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1998 (erste Auflage 1984), S. 51 (7. Kapitel) / S. 218-219 (26. Kapitel).

[396] Nicht dass Voegelin diese Probleme nicht bemerkt hätte, aber er weicht einer Antwort in der Regel durch Weitschweifigkeit oder stillschweigenden Themawechsel aus. (Vgl. z.B. Voegelin, Order and History III, S. 299-303.) - Noch unzulänglicher: Voegelin, Order and History V, S. 26. - Ebenfalls unbefriedigend: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O'Connor), Montreal 1980, S. 23/24.

[397] Siehe dazu die Naturrechtskritik, die Voegelin unter Rückgriff auf Aristoteles' Begriff der „phronesis“ in seinem Aufsatz „Das Rechte von Natur“ übt. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 128.) - Zur ethischen Theorie Voegelins vgl. Julian Nida-Rümelin: Das Begründungsproblem bei Eric Voegelin. (Typoskript eines Vortrages beim Internationalen Eric-Voegelin Symposium in München August 1998, Eric Voegelin-Archiv in München).

[398] Hans Kelsen legt den Finger auf die Wunde, wenn er feststellt, dass die metaphysischen Begriffe, die in der Vergangenheit zur Rechtfertigung bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen herangezogen wurden und auf die sich auch Voegelin beruft (wie u.a. das platonische agathon, der aristotelische nous, die thomistische ratio aeterna), lediglich Leerformeln sind, die zur Rechtfertigung jeder beliebigen Sozialordnung dienen können. Vgl. Kelsen, A New Science, S. 15/16. - Vgl. auch Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, 2. Auflage, Wien 1975.

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