Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

1 Vorwort zur Buchausgabe

Das Interesse, das der Politikphilosoph Eric Voegelin im deutschsprachigen Raum findet, scheint in den letzten Jahren mehr und mehr zu wachsen. Des öfteren schon waren in der jüngsten Zeit Artikel über Eric Voegelin sogar in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen zu lesen,[1] was darauf schließen lässt, dass auch über den engen Kreis von Fachwissenschaftlern hinaus ein breiteres Interesse an Voegelins politischer Philosophie besteht. Das gesteigerte Interesse an Voegelin ist nicht verwunderlich, hat Voegelin sich in seinen Werken doch intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt, einem Thema, das gerade heute wieder besonders aktuell ist.

Leider ist aber gerade die Art und Weise, wie Eric Voegelin das Verhältnis von Religion und Politik bestimmt, in keiner Weise geeignet, die Schwierigkeiten, vor denen wir damit in der Gegenwart stehen, zu lösen. Voegelins „Lösung“ schafft eher noch zusätzliche Probleme, als dass sie die bestehenden Schwierigkeiten beseitigt. Weshalb das so ist, will ich an dieser Stelle kurz erläutern.

Will man die normative Frage untersuchen, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen sollten, so dass weder die politische Ordnung Schaden nimmt noch die Religion in unnötiger Weise beeinträchtigt wird, dann muss man zwei verschiedene Unterscheidungen sorgfältig voneinander trennen:

  1. Die Unterscheidung zwischen richtiger (bzw. „wahrer“) und falscher Religion.
     
  2. Die Unterscheidung zwischen guter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung verträglicher, und schlechter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung unverträglicher Religion.

Die erste dieser beiden Unterscheidungen lässt sich wissenschaftlich-objektiv überhaupt nicht treffen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der wir über die Wahrheit und Falschheit von Religionen urteilen könnten. Die „religiösen Wahrheiten“ sind der Wissenschaft nicht zugänglich und es ist das Beste, sie aus allen wissenschaftlichen Betrachtungen auszuklammern und innerhalb der Wissenschaft ihnen gegenüber strikte Neutralität zu wahren.

Die zweite Unterscheidung müssen wir jedoch treffen, weil dazu eine praktische Notwendigkeit besteht. Diese Unterscheidung hat eine ethische und eine empirische Seite. Die ethische Seite betrifft die Werte, die unserer Überzeugung nach das gesellschaftliche Zusammenleben regeln sollten, und die durch die politische Ordnung geschützt werden müssen. Die Gestalt der politischen Ordnung hängt ganz wesentlich davon ab, welche Werte wir als wichtig erachten. Vertritt man die Wertfreiheit in der Wissenschaft, dann lässt sich über die Richtigkeit und Falschheit dieser Werte wissenschaftlich ebenfalls nicht urteilen. Als Menschen müssen wir uns jedoch für bestimmte Werte entscheiden und es ist nicht möglich abweichende Werte bei Anderen uneingeschränkt zu tolerieren. Die empirische Seite der Unterscheidung betrifft die Frage, wie sich bestimmte religiöse Einstellungen oder bestimmte religiöse Praktiken kausal auf die politische Ordnung auswirken oder - ebenfalls eine Frage kausaler Zusammenhänge - wie gut sie mit der politischen Ordnung verträglich sind. Die kausalen Zusammenhänge zwischen Religion und politischer Ordnung sind einer wissenschaftlichen Methodik prinzipiell zugänglich und ihre wissenschaftliche Untersuchung ist von größtem Interesse.

Es ist wichtig, diese beiden Unterscheidungen auseinander zu halten, weil wir nur so die ethischen Fragen, über die wir uns streiten müssen, von den religiös-metaphysischen Fragen, über die wir es nicht ernsthaft zum Streit kommen lassen sollten, sorgfältig trennen können (siehe dazu auch Kapitel 7.4). Gerade diese Unterscheidung verwischt Voegelin aber, was, nebenbei bemerkt, einer der Gründe für den an vielen seiner Schriften so auffälligen polemisch-intoleranten Zug sein könnte. Voegelin meinte nämlich, dass es erstens sehr wohl möglich ist, über die Wahrheit und Falschheit religiöser Überzeugungen ein wissenschaftlich begründetes Urteil zu fällen, und dass zweitens ein äußerst enger kausaler Zusammenhang zwischen der Richtigkeit oder Falschheit der religiösen Einstellung und ihrer Wirkung auf die politische Ordnung besteht. Wie ich in diesem Buch darzulegen versuche, hat Voegelin sich in beiden Punkten geirrt.

Die Wahrheit oder Falschheit religiöser Überzeugungen schien für Voegelin davon abhängig zu sein, ob sie Ausdruck intakter oder verdorbener religiöser Erfahrungen sind. Wie soll man aber die Intaktheit oder Verderbtheit religiöser Erfahrungen wissenschaftlich beurteilen können? Religiöse Erfahrungen sind doch, sollte man meinen, zunächst einmal sehr persönliche Erfahrungen jedes Einzelnen, und wenn der eine diese religiösen Erfahrungen macht und der andere jene, wer wollte damit rechten und sich anmaßen zu behaupten, die Erfahrungen des einen wären echter und unverdorbener als die des anderen? Genau das tut Voegelin aber, und die „wissenschaftliche“ Methodik, deren er sich dazu bedient, besteht unter anderem in bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen, mit denen er meint, die Natur unserer Transzendenzerfahrungen ergründen zu können. Diese bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen bilden den Hauptgegenstand des vorliegenden Buches (besonders des 4. Kapitels), und ich glaube zeigen zu können, dass Voegelin mit seinem bewusstseinsphilosophischen Unterfangen gescheitert ist. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, die die Bewertung religiöser Erfahrungen erlaubt, und auch Voegelins Bewusstseinsphilosophie kann das nicht leisten. Die Ergebnisse meiner Kritik von Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind in Kapitel 6.1 und Kapitel 6.2 zusammengefasst.

Trotz dieses Irrtums wäre Voegelins Werk für die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Beziehung von Religion und Politik immer noch dann von großer Bedeutung, wenn Voegelin wenigstens einen Beitrag zur Untersuchung der kausalen Beziehungen zwischen religiösen Einstellungen und politischer Ordnung geleistet hätte. Angesichts der theoretischen Grundprämisse Voegelins, dass die Qualität der politischen Ordnung sehr stark vom Zustand des religiösen Bewusstseins abhängt, müsste man erwarten, dass Voegelin höchstes Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung der entsprechenden Kausalzusammenhänge gehabt hätte. Erstaunlicherweise findet sich in Voegelins Oevre jedoch so gut wie nirgendwo ein substantieller Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung dieser Kausalbeziehungen. Voegelin beschränkt sich vielmehr fast vollständig auf die geistesgeschichtlich-hermeneutische Deutung des religiösen und philosophischen Schrifttums bedeutender Epochen der Menschheitsgeschichte. Zwar werden in seinem Hauptwerk „Order and History“ auch immer mal wieder die politischen Zustände der von ihm untersuchten historischen Gesellschaften referiert, aber die Zusammenhänge zwischen den politischen Zuständen und dem geistig-religiösen Hintergrund bleiben weitgehend im Dunkeln, von einer differenzierten Beurteilung dieser Zusammenhänge ganz zu schweigen. Abgesehen von Voegelins einseitiger methodischer Ausrichtung dürfte der Grund dafür ebenfalls in Voegelins dogmatischer Grundprämisse liegen, dass die Qualität der politischen Ordnung ganz unmittelbar von ihren spirituellen Grundlagen abhängt. Daher ist für Voegelin, wenn er nur den Zustand des religiösen Bewusstseins hermeneutisch bestimmt hat, immer schon alles klar. Ist das religiöse Bewusstsein deformiert, dann ergibt sich für Voegelin schon allein daraus, dass die politische Ordnung nichts taugen kann. Die Kritik dieser Grundprämisse bildet ebenfalls ein wichtiges Anliegen dieses Buches (siehe Kapitel 7), wenn ich auch nicht ganz so ausführlich darauf eingehe wie auf Voegelins Bewusstseinsphilosophie selbst.

Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Magisterarbeit über „Voegelins Bewusstseinsphilosophie (als Grundlage politischer Ordnung)“, die ich im Jahr 2000 an der Universität Bonn verfasst habe, und die in ihrer ursprünglichen Form seitdem auf meiner Website abrufbar war.[2] Dass ich mich nun entschlossen habe, sie sieben Jahre nach ihrer Niederschrift in überarbeiteter Form als Buch zu veröffentlichen hat verschiedene Gründe. Einmal habe ich, wie schon oben erwähnt, den Eindruck, dass das Interesse an Voegelin in letzter Zeit gewachsen ist. Zugleich gilt aber, was ich schon damals bezüglich der Voegelin-Sekundärliteratur festgestellt habe: Sie ist ihrem Standpunkt nach oft einseitig und zuweilen, wie mir scheint, mehr der Gedächnispflege als der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verpflichtet. Immerhin scheint sich das in jüngster Zeit langsam zu wandeln. Ein erfreuliches Beispiel bildet in dieser Hinsicht Michael Henkels Studie „Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938)“, die vor kurzem in der ansonsten nicht immer höchste Qualität verbürgenden Reihe der vom Münchner Eric-Voegelin-Archiv herausgegebenen „Occasional Papers“ erschienen ist.[3] Der entschieden autoritäre Standpunkt, der Voegelins politisches Denken seit 1929 bestimmt, und der auch nach Voegelins Emigration in die USA in verschleierter Form noch nachwirkt, wird darin ehrlich angesprochen. Lesenswert erscheinen mir unter den jüngeren Publikationen auch Hans-Jörg Sigwarts „Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins“[4] , auch wenn sich der Autor Voegelins Standpunkt mehr als notwendig zu eigen macht. Dezidiert kritische Beiträge sind allerdings trotz der längst überfällig gewesenen Veröffentlichung von Hans Kelsens Rezension zu Voegelins „Neuer Wissenschaft der Politik“[5] bisher eher selten geblieben. Und das, obwohl viele von Voegelins Ansichten geradezu hanebüchen sind. Deshalb hoffe ich, dass meine sehr kritische Auseinandersetzung mit Voegelins Bewusstseinsphilosophie mit dazu beiträgt eine Lücke in der Voegelin-Sekundärliteratur zu schließen.

Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich entschlossen habe, meine Arbeit nun auch als Buch zu veröffentlichen, besteht darin, dass Internetquellen - zum Teil aus guten Gründen - nach wie vor oft nicht als zitierfähig angesehen werden. Ich möchte aber anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, auf meine Thesen zu Eric Voegelin Bezug zu nehmen, und dazu ist die „verbindlichere“ Form einer Buchveröffentlichung immer noch am besten geeignet.

Nimmt man nach mehreren Jahren eine ältere Arbeit wieder zur Hand, so bleibt nicht aus, dass man Vieles inzwischen anders schreiben würde. Ich bin daher für die Buchveröffentlichung die Magisterarbeit noch einmal durchgegangen und habe sie an vielen Stellen geändert, wo mir der Text unklar oder missverständlich erschien. Auch habe ich dort, wo es mir aufgefallen ist, weitere Literaturverweise eingefügt, ohne allerdings die seitdem erschienene oder damals unberücksichtigt gebliebene Sekundärliteratur systematisch einzuarbeiten. Der Aufwand dafür hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, ohne dass die inhaltliche Aussage, um die es mir geht, und die mir nach wie vor zutreffend erscheint, dadurch wesentlich stärker geworden wäre. Da ich mit dem, was ich damals über Voegelin geschrieben habe, immer noch fast vollkommen übereinstimme, und meine Meinung über den Politikwissenschaftler Eric Voegelin seitdem eher noch kritischer geworden ist, bin ich mit Änderungen im Ganzen aber eher behutsam geblieben. Vollständig bzw. fast vollständig neu geschrieben habe ich lediglich die Kapitel 7.2 und 5.3.3, die mir in der bisherigen Form zum Teil abwegig bzw. nicht verständlich genug erschienen sind. Beim wiederlesen der Arbeit ist mir auch aufgefallen, dass ich manchmal zu drastischen Formulierungen gegriffen habe, wie ich sie heute nicht mehr unbedingt wählen würde. Trotzdem habe ich mich entschlossen, bei der Überarbeitung den Stil nicht allzusehr zu glätten, denn ich blicke mit Wehmut auf die glückliche Zeit zurück, als ich noch nicht wusste, wie sehr man innerhalb akademischer Institutionen zuweilen gezwungen ist, sich intellektuell zu prostituieren. Die Art von intellektueller Konzessionslosigkeit, die ich an großen Philosophen wie Thomas Hobbes, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein so bewundere, und der auch Eric Voegelin auf eine allerdings eher törichte Weise huldigte, wird im Milieu der akademischen Philosophie ziemlich wirkungsvoll unterdrückt. Ob es wirklich besser wäre, sie generell zuzulassen, möchte ich gar nicht unbedingt behaupten, aber schade ist es trotzdem.

Zum Schluss will ich nicht versäumen, Erasmus Scheuer für die Hilfe beim Korrekturlesen zu danken.

Düsseldorf, den 31. August 2007

[1] Jüngst zum Beispiel im Ressort Literatur und Kunst der Neuen Züricher Zeitung vom 28. April 2007: Peter Cornelius Mayer-Tasch: Auf der Suche nach einer Ordnung der historischen Ordnungen. Das Hauptwerk des Politikwissenschaftlers und Geschichtsphilosophen Eric Voegelin.

[2] www.eckhartarnbold.de/papers/voegelin

[3] Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), 2. Aufl., München 2005.

[4] Hans-Jörg Sigwart: Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins, Würzburg 2005.

[5] Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen's Reply to Eric Voegelin's „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004.

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