Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
    7.1 Spirituelle Wahrheit und politische Ordnung bei Voegelin
    7.2 Gibt es spirituelle Sachzwänge?
    7.3 Bedarf die Legitimation der politischen Ordnung einer religiösen Komponente?
    7.4 Wertbegründung und -konsens in der pluralistischen Gesellschaft
    7.5 Sinngebung durch die politische Ordnung?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

7.4 Wertbegründung und -konsens in der pluralistischen Gesellschaft

Ein wichtiges Argument, welches für die Religion und besonders für eine stärkere Geltung der Religion im gesellschaftlichen Leben angeführt werden könnte, beruht auf dem philosophischen Problem der Letztbegründung ethischer Werte. Dieses Argument lautet in etwa wie folgt: Keine Gesellschaft, so könnte argumentiert werden, kann ohne einen Satz verbindlicher ethischer Grundwerte existieren. Es wäre aber absurd, diese Grundwerte, die absolut gelten müssen, zur Disposition eines Konsensfindungsverfahrens zu stellen, sei dies nun eine verfassungsgebende Versammlung oder auch nur ein gedachter Gesellschaftsvertrag, zumal dann immer noch die Gültigkeit des Verfahrens als Wertvoraussetzung übrig bliebe. Zugleich zeigt die Philosophiegeschichte, dass alle Versuche einer rein säkularen Letztbegründung ethischer Werte zum Scheitern verurteilt sind. Mit anderen Worten: Wenn es Gott nicht gäbe, dann wäre alles erlaubt. Also muss das religiöse Bewusstsein in der Gesellschaft mindestens noch so wach sein, dass die Verbindlichkeit der Grundwerte anerkannt wird.

Stimmt dieses Argument, und ist die Religiosität damit tatsächlich unverzichtbar? An diesem Ergebnis scheint kein Weg vorbeizuführen, denn wenn eine philosophische Letztbegründung der Ethik nicht möglich ist, dann bleibt als einzige Form der Wertbegründung ein ethischer Dezisionismus übrig, d.h. jeder wählt sich seine Werte selbst aus, und wenn jemand die Wahl trifft, überhaupt keine Werte zu beachten, dann ist dies genauso möglich. Diese theoretische Konsequenz ist gewiss sehr ernüchternd. Aber kann die Religion überhaupt Abhilfe schaffen? Das ist wiederum mehr als zweifelhaft, denn durch eine religiöse Wertbegründung würde das Begründungsproblem nicht gelöst, sondern nur auf die Religion verschoben werden. Dadurch dürfte das Begründungsproblem aber eher noch komplizierter werden, da außer den Werten nun auch die Wahrheit des religiösen Glaubens, der die Werte begründet, auf dem Prüfstand steht. Zwischen konkurrierenden religiösen Glaubensüberzeugungen objektiv zu entscheiden ist aber unmöglich. Die Anerkennung einer Religion beruht letzten Endes auf einem Glaubensakt und damit nicht weniger auf einer persönlichen Entscheidung als die sittlichen Werte nach der Theorie des ethischen Dezisionismus.

Eine Letztbegründung oder gar ein regelrechter Beweis ethischer Werte scheint also unmöglich zu sein. Die universelle Verbindlichkeit bestimmter Werte lässt sich daher bestenfalls auf Basis eines Konsenses erreichen, auch wenn dies dem Charakter ethischer Werte als unverfügbare Werte zu widersprechen scheint. Dabei dürfte es höchstwahrscheinlich sogar aussichtsreicher sein, den Konsens auf der Ebene der Werte als auf der Ebene der philosophischen oder religiösen Begründung der Werte zu suchen. Denn darüber, dass töten oder stehlen verwerflich ist, lässt sich gewiss leichter eine Einigung erzielen als über die Frage, ob Allah oder der liebe Gott oder die philosophische Vernunft der legitime moralische Gesetzgeber ist. Und dort, wo unversöhnliche Wertauffassungen aufeinanderprallen, würde es eine Einigung erst recht erschweren, wenn der Streit zuerst auf der metaphysischen bzw. existentiellen Ebene entschieden werden soll. Von großer Bedeutung ist dabei, dass die Akzeptanz von Werten nicht zwingend durch die existentielle Haltung eines Menschen bedingt ist, sondern dass sie auch auf der bloßen Einsicht in die Nützlichkeit eines Wertes für das gesellschaftliche Zusammenleben beruhen kann. Weiterhin können Werte auch deshalb akzeptiert werden, weil sie im Dialog mit anderen vereinbart worden sind. Ein Wertkonsens ist daher grundsätzlich auch ohne einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund der Beteiligten denkbar.

Auch in der Frage der Wertbegründung und des gesellschaftlichen Konsenses über bestimmte Grundwerte lautet daher das Ergebnis, dass der Rückgriff auf die Spiritualität keinesfalls notwendig und in der Regel eher hinderlich als förderlich ist.

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