Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie |
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Bereits bei der Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie fiel auf, dass die Zusammenhänge zwischen den spirituellen Erfahrungsgrundlagen politischer Ordnung und der politischen Ordnung selbst, die sich als rechtliche und institutionelle Ordnung einer Gesellschaft konkretisiert, merkwürdig im Dunkeln bleiben. Zwar lässt Voegelin keine Gelegenheit aus, um vor den verhängnisvollen Folgen zu warnen, die ein Verlust des Erfahrungskontakts zum transzendenten Seinsgrund nach seiner Überzeugung unweigerlich nach sich zieht, aber diese Warnungen sind wissenschaftlich kaum präziser, als es die pauschale Behauptung wäre, dass alles Unheil unserer Zeit eine Folge der menschlichen Gottlosigkeit sei. Alles läuft bei Voegelin letztlich auf die anthropologische These hinaus, dass der Mensch des Kontakts zum Seinsgrund bedarf, um seine Existenz zu ordnen, und dass keine politische Ordnung erzielt werden kann, wenn nicht sowohl auf der Seite der Herrschenden als auch auf der Seite der Beherrschten der in genau dieser Weise existentiell geordnete Menschentypus dominiert. Man mag einwenden, dass Voegelin im Rahmen seiner bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen aus Gründen der thematischen Beschränkung diese Punkte nur habe andeuten können. Doch auch in seinen anderen Schriften beschäftigt sich Voegelin fast ausschließlich mit der geistigen Seite politischer Ordnung und fast nie mit dem Zusammenhang der geistigen Grundlagen und der konkreten Machtordnung, wiewohl er an der Ansicht, dass zwischen beiden Bereichen eine unmittelbare Beziehung besteht, offenbar keinerlei Zweifel hat.
Wie wenig erklärende Kraft Voegelins Theorie hat, wenn er tatsächlich einmal versucht, mit ihr die Ursachen gesellschaftlicher Unordnung zu beschreiben, lässt sich am besten an einem Beispiel nachvollziehen: In seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt“ stellt Voegelin ein „Gesetz der westlichen Ordnung“ auf, welches besagt, dass es drei „Autoritätsquellen“ der Ordnung gibt, erstens die herrscherliche Macht, zweitens die Vernunftphilosophie und drittens die religiöse Offenbarung, und dass Ordnung herrscht, solange diese Autoritätsquellen relativ autonom voneinander bleiben, Unordnung aber dann, wenn sie zusammenfallen.[403] Verfolgt man nun Voegelins weitere Ausführungen zu diesem Gesetz, so springen einige Merkwürdigkeiten ins Auge: Zunächst einmal unternimmt Voegelin keinen Versuch zu erklären, weshalb aus dem Zusammenfallen der drei Autoritätsquellen gesellschaftliche oder politische Unordnung resultiert. Solange Voegelin dies nicht demonstriert, liefert sein Gesetz nur eine völlig willkürliche Definition von „Unordnung“, die mit innerem Unfrieden, chaotischen Zuständen oder tyrannischen Übergriffen des Staates gar nichts zu tun haben muss.[404] Des weiteren stützt sich Voeglins folgende Argumentation nur marginal auf das gerade erst aufgestellte Gesetz. Es zeigt sich, dass es Voegelin keineswegs auf die Autonomie der Autoritätsquellen ankommt, - sonst müsste er ja auch die Trennung von Staat und Kirche und die Abspaltung der Naturwissenschaft von der Philosophie befürworten[405] - sondern darauf, dass christlicher Glaube und Philosophie (mit der selbstverständlich nur die von Voegelin favorisierten Richtungen der Philosophie gemeint sind[406] ) einen bestimmenden Einfluss auf Gesellschaft und Politik erlangen. Dafür ist Voegelin sogar bereit, bemerkenswerte Einschränkungen der demokratischen Rechte hinzunehmen. So fordert er „sehr energisch mit Parteiverboten“[407] gegen Parteien „antichristlicher oder antiphilosophischer Art“[408] vorzugehen. Der Grund für diese radikale Forderung liegt dabei einzig in Voegelins vorgefasster Meinung, dass die westlichen Demokratien sich nur halten können, wenn die Regierung im christlichen Geiste über eine weitgehend christliche Bevölkerung regiert.[409] Warum sie nur unter dieser Bedingung funktionieren können, dafür liefert Voegelin trotz seiner historisch weitausholenden Erörterungen keinerlei Begründung.
Ob die Berücksichtigung der spirituellen Erfahrung für die Herstellung politischer Ordnung überhaupt irgendwelche Vorteile erbringt, lässt sich nicht zuletzt deshalb nur schwer klären, weil Voegelin niemals deutlich mitteilt, von welcher Gestalt eine optimal erfahrungsbegründete politische Ordnung sein würde.[410] Versucht man sich hilfsweise an Voegelins historische Beispiele zu halten, dann erhält man ein recht irritierendes Bild. So ist für Voegelin beispielsweise im christlichen Mittelalter vor der Reformation mit der Trennung von geistlicher und weltlicher Autorität bei der gleichzeitigen Legitimation und Gestaltung der weltlichen Ordnung nach religiösen Prinzipien eine optimale Verwirklichung spirituell erfahrungsbegründeter politischer Ordnung gegeben. Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins Einschätzung im mittelalterlichen Christentum die bislang größte Erfahrungshelle des Ordnungswissens erreicht worden ist. Gleichzeitig herrscht jedoch mit der hierarchischen Gesellschaftsform und dem feudalen Herrschaftssystem im Mittelalter eine politische Ordnung, die alles andere als human und gerecht ist. Ein weiteres irritierendes Beispiel stellt die politische Philosophie Platons dar. Für Voegelin war Platon ein Philosoph von größter Offenheit der Seele und höchster spiritueller Empfindsamkeit. Aber die politisch-institutionelle Ordnung, die Platon im „Staat“ entworfen hat, bildet geradezu das Musterbeispiel einer totalitären Schreckensutopie.[411] Hält man sich diese Beispiele vor Augen, so erscheint es geradezu absurd, dass Voegelin der Wiedererlangung einer spirituellen Realitätserfahrung vermittels der Öffnung der Seele eine so große Bedeutung beimisst. Eher müsste man den Schluss ziehen, dass für gute politische Ordnung ein niedriges spirituelles Niveau von Vorteil ist. Gewiss, die soeben gegebenen Beispiele sind Extrembeispiele, denn Voegelin befürwortete auch die amerikanische Demokratie, die in der Tat eine sehr erfolgreiche Verwirklichung humaner und gerechter politischer Ordnung darstellt, und nach Voegelins Ansicht steht der politischen Philosophie Platons die des Aristoteles, welche wesentlich vernünftiger ist, in nichts nach. Aber immer noch stellt sich dann die Frage, ob empirisch überhaupt eine Korrelation zwischen dem Niveau der spirituellen Erfahrung und der Güte der politischen Ordnung festgestellt werden kann.
Dieser Frage, ob politische Ordnung überhaupt eine spirituelle Grundlage benötigt, um eine erfolgreiche und gerechte politische Ordnung zu sein, soll im folgenden nachgegangen werden.
[403] Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt. (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, im folgenden zitiert als: Voegelin, Zukunft der westlichen Welt, S. 21-23.
[404] Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins „Gesetz“ auch im Reich des Kaisers Justinian, anhand von dessen constitutio imperatoria majestas Voegelin sein „Gesetz“ entwickelt, größte Unordnung geherrscht haben müsste, da ja der Kaiser alle drei Autoritätsquellen in seiner Person vereinte. (Vgl. ebd.)
[405] Vgl. ebd., S. 31, S. 34.
[406] Vgl. ebd., S. 35.
[407] Ebd., S. 33. - Nicht immer hat Voegelin derart drastische Forderungen aufgestellt. Aber wenn schon nicht mit Verboten, dann sollte zumindest durch starke informelle Mechanismen sichergestellt werden, dass religiös ungeeignete Leute von einer politischen Führungsrolle effektiv ausgeschlossen bleiben.
[408] Ebd.
[409] Vgl. ebd., S. 32-33.
[410] Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, würde Voegelins Vorgaben am ehesten eine theokratische politische Ordnung, etwa so wie sie im heutigen Iran existiert, entsprechen. Vgl. Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 125-127.
[411] Vgl. dazu die bekannte Kritik in: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons, 7.Aufl., Tübingen 1992, S. 104ff. - Poppers Deutung ist freilich nicht unumstritten. Außer einem in der Tat verfälschenden Platon-Zitat auf dem Umschlag (in der Taschenbuchausgabe: S. 9.) wird ihm unter anderem vorgeworfen, sich bei seiner Kritik an dem personenzentrierten Ansatz Platons zu sehr auf den „Staat“ zu konzentrieren, und den stärker institutionellen Ansatz der „Gesetze“ zu vernachlässigen. (Vgl. August Benz: Popper, Platon und das „Fundamentalproblem der politischen Theorie“: eine Kritik, in: Zeitschrift für Politik 1999.) Von dieser Kritik unberührt bleibt allerdings Poppers massiver Vorwurf der Inhumanität gegen Platon.