Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
    6.1 Die ungelösten Fundamentalprobleme von Voegelins Ansatz
    6.2 Was sind Transzendenzerfahrungen?
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

6.2 Was sind Transzendenzerfahrungen?

In seinen bewusstseinsphilosophischen Schriften beruft Voegelin sich immer wieder auf Transzendenzerfahrungen. Leider versäumt Voegelin dabei zu klären, was Transzendenzerfahrungen sind, wie man sie erlangen kann, und ob sie ihren Namen zu Recht tragen. Will man sich über diesen Zentralbegriff der Voegelinschen Philosophie Rechenschaft ablegen, so bleibt kein anderer Ausweg, als ein wenig über das Wesen dieser Erfahrungen zu spekulieren, indem man verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Erklärung gedanklich durchspielt. Im Wesentlichen sind drei Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen: 1) Es gibt tatsächlich Transzendenzerfahrungen, aber sie sind nur wenigen auserwählten Individuen zugänglich. 2) Hinter den Transzendenzerfahrungen verbergen sich bestimmte innere Erlebnisse, die jeder Mensch wenigstens gelegentlich hat. Nur messen verschiedene Menschen diesen Erlebnissen eine unterschiedliche Bedeutung für ihr Leben bei. 3) Es gibt keine Transzendenzerfahrungen und alles, was über sie gesagt wird, ist lediglich leeres Gerede. Diese drei grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten sollen nun im Einzelnen etwas näher beleuchtet werden.

1. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen in Form von Erleuchtungen einzelner Individuen. Denkbar ist, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen um besondere Erlebnisse handelt, die nur ganz bestimmten, man könnte sagen „religiös privilegierten“ Menschen widerfahren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Erlebnisse tatsächlich die Folge des Eindringens eines transzendenten Seins in die Immanenz sind, oder ob es sich dabei bloß um ein psychisches Phänomen ähnlich einer Geisteskrankheit handelt. Die erste Variante ist eher unwahrscheinlich, da es für die Existenz einer transzendenten Seinsphäre keine anderen Anhaltspunkte gibt als eben diese Erfahrungen selbst, die einer Geisteskrankheit oder einem Drogenrausch unter Umständen zum Verwechseln ähnlich sehen können.[399] Aber selbst wenn es sich um „echte“ Transzendenzerfahrungen handeln sollte, steht auf Grund des schon erwähnten Problems der wahren und falschen Propheten außer Zweifel, dass diese Erfahrungen außer für den, dem sie widerfahren, für niemanden Autorität beanspruchen können. Ob Voegelin so interpretiert werden muss, dass die Transzendenzerfahrungen nur wenigen religiös privilegierten Individuen zukommen, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Voegelins historischer Ansatz, nach welchem die „Seinssprünge“ zunächst als Erleuchtungsereignisse in einzelnen Individuen stattfinden, legt diese Interpretation nahe.[400] Dem steht jedoch Voegelins bewusstseinsphilosophischer Ansatz entgegen, der, gerade weil dabei das Bewusstsein des Menschen untersucht wird, beinhaltet, dass die Transzendenzerfahrungen jedem Menschen zugänglich sind, wenn es auch von Mensch zu Mensch Unterschiede in der Intensität der Erfahrung geben kann.

2. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als innere Erlebnisse. Es könnte auch der Fall sein, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen, die Voegelin meint, um innere Empfindungen und Erlebnisse handelt, welche im Seelenleben eines jeden Menschen vorfindlich sind, auch wenn diesen Empfindungen im bewussten Denken und Handeln nicht immer eine gleichermaßen bedeutsame Rolle eingeräumt wird. Zu diesen inneren Empfindungen gehören vermutlich alle Arten von Gefühlserlebnissen, die aus dem Alltäglichen herausfallen, eine starke emotionale Besetzung aufweisen und entweder nicht unmittelbar einem äußeren Anlass zugerechnet werden können oder durch ihre Intensität über diesen Anlass hinauszuweisen scheinen. Dazu könnten beispielsweise Erinnerungen, Träume, Tagträume, Drogenerlebnisse, Sex, bestimmte durch Kunst oder Musik hervorgerufene Empfindungen sowie sich manchmal plötzlich einstellende und scheinbar grundlose Gefühle von großer Angst oder Freude zählen. Der Versuch, den Bereich der für Transzendenzerfahrungen in Frage kommenden seelischen Erlebnisse näher einzugrenzen, begegnet nicht zuletzt deshalb großen Schwierigkeiten, weil es auch eine Frage des Temperamentes ist, ob jemand sagt: „Ich habe eben ein wenig vor mich hingeträumt“, oder ob er erklärt: „Ich habe soeben in der Meditation für einige Sekunden das Eindringen der Transzendenz in mein Bewusstsein erfahren“, oder ob jemand mitteilt: „Ich hatte plötzlich ein unerklärliches Angstgefühl“, oder stattdessen vielmehr behauptet: „Mir sind gerade die Schauer des Numinosen über den Rücken gelaufen.“ Damit soll nicht gesagt werden, dass die jeweils letztere Form, die entsprechende Erfahrung in Worte zu fassen, reine Hochstapelei ist. Es ist nur der Tatbestand festzuhalten, dass derartige Erfahrungen nicht aus sich selbst heraus ihr Wesen offenbaren, sondern dass dies erst die Folge einer menschlichen Deutung ist.

Nun spricht nichts dagegen, das eigene Leben im Zeichen irgendwelcher dieser Erfahrungen zu führen, sofern man das Gefühl hat, dass dadurch das Leben reicher wird und einen höheren Wert bekommt. Auch mag es für den eigenen Seelenhaushalt von großer Wichtigkeit sein, auf derartige Erfahrungen achtzugeben. Aber gegenüber Voegelins Deutung muss, sofern er diese Art von Erfahrungen meint, zweierlei festgehalten werden: Erstens können derartige Erfahrungen zwar Sinn und Wert vermitteln, nicht jedoch Wahrheit. Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von etwas Gemeintem mit der Wirklichkeit. Wahrheit kommt nicht bereits dadurch zustande, dass etwas als wahr empfunden oder als höchst real erfahren wird, denn auch Irrtümer werden, solange man von ihnen überzeugt ist, als wahr empfunden. Grundsätzlich sind innere Erfahrungen, Evidenzerlebnisse oder Erleuchtungen niemals eine unmittelbare Quelle von Wahrheit, sondern bestenfalls eine Quelle von Ideen, über deren Richtigkeit erst eine sorgfältige Prüfung - möglichst in einem nüchterneren Seelenzustand! - befinden muss. Mit anderen Worten: Man sollte sich eine gesunde Skepsis gerade und besonders auch gegenüber den eigenen Erleuchtungen bewahren. Zu den Wesensmerkmalen der Wahrheit gehört zudem ihre Objektivität oder zumindest Intersubjektivität. Gerade dies ist jedoch für die in Frage stehenden Erfahrungen nicht gegeben, welche zunächst einmal höchst individuelle und persönliche Erfahrungen sind. Daraus, dass diese Erfahrungen zunächst nur eine Meinung oder ein Wertempfinden, aber nicht zwangsläufig Wahrheit vermitteln, ergeben sich zwei gewichtige Konsequenzen: Zum einen sind Konflikte mit der Realität keineswegs ausgeschlossen, so dass es sehr voreilig ist, die Realität der inneren seelischen Erfahrungen mit der Realität schlechthin gleichzusetzen. Zum anderen kann aus der Erfahrung kein Gehorsamsanspruch abgeleitet werden, da dieser Art der Erfahrung die objektive Gültigkeit fehlt. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Erfahrungen eines Einzelnen auf der Basis freiwilliger Anerkennung für Andere Bedeutsamkeit erlangen können. Zudem kann sich ein Gehorsamsanspruch immer noch dann ergeben, wenn das Erfahrene aus anderen Gründen diesen Anspruch rechtfertigt. (Beispiel: Einem Propheten geht im Rahmen einer göttlichen Vision eine moralische Norm auf, welche sich auch bei anschließender nüchterner Betrachtung und unter Abwägung aller Eventualitäten als sinnvoll und akzeptabel erweist.)

Zweitens muss gegenüber Voegelin festgehalten werden, dass jene emphatischen seelischen Erlebnisse - trotz gelegentlicher überraschender Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichen Individuen - im Ganzen von einer solch irregulären Vielfalt sind, dass es unmöglich ist, sie allesamt auf eine Normerfahrung der existenziellen Spannung zum Grund zu beziehen. Manch einer empfindet eine existenzielle Spannung zum Grund, ein anderer wiederum fühlt sich in der Harmonie des Universums aufgehoben, wieder einer spürt vielleicht die Nähe Gottes in anderen Menschen. Dies sind ganz unterschiedliche Erfahrungen. Der Versuch, alle Erfahrungen je nach ihrer Nähe zur Normerfahrung der existenziellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund in „kompaktere“ und „differenziertere“ Erfahrungen einzuteilen und so zwischen ihnen eine Rangfolge herzustellen, dürfte höchstens für sehr nahe verwandte Erfahrungen durchführbar sein.

3. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als soziales Artefakt. Als letzte Möglichkeit muss in Erwägung gezogen werden, dass es Transzendenzerfahrungen überhaupt nicht gibt, und dass auch nicht jene eben beschriebenen außergewöhnlichen Seelenzustände damit gemeint sind, sondern dass es sich vielmehr um Einbildungen oder besser um soziale Artefakte handelt, die bloß geglaubt werden, weil so viele Menschen davon reden, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Der gesellschaftliche Mechanismus, der zu diesen Artefakten führt, wird sehr treffend durch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern veranschaulicht, in welchem bekanntlich ein ganzer Hofstaat in den höchsten Tönen die Farbenpracht der Gewänder eines splitternackten Kaisers preist. Darauf, dass bei Voegelin die vermeintlichen Transzendenzerfahrungen nur ein solches Kunstprodukt der Einbildungskraft unter dem Einfluss der eifrigen Lektüre religiösen Schrifttums sind, deutet die auffällige Tatsache hin, dass Voegelin niemals von einer eigenen Transzendenzerfahrung berichtet. Immer nur wird auf Platon, Aristoteles, den heiligen Thomas von Aquin, die Bibel und auf andere ehrwürdige Schriftstücke verwiesen, von denen Voegelin versichert, dass sie Ausdruck von echten und unverfälschten Transzendenzerfahrungen seien. Einen Bericht von eigenen Transzendenzerfahrungen liefert Voegelin nicht. Stattdessen müssen Kindheitserinnerungen als Lückenbüßer herhalten.[401] Doch dies wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch Voegelins, die Transzendenzerfahrungen, an deren Wirklichkeit er so gerne glauben wollte, in irgendeiner Weise auch bei sich selbst vorzufinden. Ohne eigene Transzendenzerfahrungen aber wird Voegelins Behauptung, dass sich die Richtigkeit der politischen Philosophien, die er befürwortete, „empirisch“ überprüfen ließe,[402] vollends unglaubwürdig.

Von den eben aufgeführten drei Deutungsmöglichkeiten erscheint - auch wenn es sich nicht mit Sicherheit sagen lässt - die zweite Deutungsmöglichkeit als die naheliegendste, da die erste Möglichkeit allzu unwahrscheinlich ist, und man andererseits auch ungern glauben möchte, dass jemand den größten Teil seines Lebenswerkes auf pure Einbildungen stützt. Von welcher Deutungsmöglichkeit man aber auch ausgeht, in keinem Fall lassen sich die weitreichenden Konsequenzen rechtfertigen, die Voegelin für die politische Ordnung und für die Politikwissenschaft aus den Transzendenzerfahrungen ziehen möchte.

[399] Vgl. William James: The Varieties of Religious Experience, Cambridge, Massachusetts / London, England 1985 (zuerst 1902), S. 11-28.

[400] Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O'Connor), Montreal 1980, S. 25. - Bereits in den „Politischen Religionen“ schreibt Voegelin: „Die Erneuerung kann in großem Maße nur von großen religiösen Persönlichkeiten ausgehen - aber jedem ist es möglich, bereit zu sein und das seine zu tun, um den Boden zu bereiten, aus dem sich der Widerstand gegen das Böse erhebt.“ (Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938), S. 6.)

[401] Vgl. Anamnesis, S. 62-76.

[402] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 96.

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