Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
    5.1 Naturwissenschaft und Politikwissenschaft
    5.2 Voegelins Begriff der Realität
    5.3 Kritik von Voegelins Realitätsbegriff
    5.4 Die Theorie der sprachlichen Indizes
    5.5 Kritik von Voegelins Sprachtheorie
    5.6 Die Stufen des Ordnungswissens
    5.7 Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deutung
    5.8 Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik
    5.9 Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus
    5.10 „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen
    5.11 Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen
    5.12 Fazit
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

5.1 Naturwissenschaft und Politikwissenschaft

Im einleitenden Teil seines Aufsatzes stellt Voegelin die Behauptung auf, dass die Politische Wissenschaft von einer fundamental anderen Art sei als die Naturwissenschaften, so dass die Politikwissenschaft nach Voegelins Ansicht nicht zu einem durchgängig logisch zusammenhängenden System von Aussagen ausgebaut werden kann. Die Gründe hierfür sind für Voegelin prinzipieller Natur: 1. Der Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft ist bereits durch nicht-wissenschaftliche Interpretationen besetzt. 2. Der Gegenstand (Politik) wird durch Interpretationen des Gegenstandes selbst geformt. 3. Unterschiedliche Interpretationen der Politik, seien sie nun wissenschaftlicher oder unwissenschaftlicher Art, streiten einander ihren Wahrheitsanspruch ab und betrachten sich gegenseitig nur als Störfaktor innerhalb des Gegenstandsbereiches, indem sie beispielsweise gegen die jeweils andere Interpretation den Ideologievorwurf erheben.[229]

Aus all dem schließt Voegelin, dass die Beziehung von Wissen und Gegenstand in der Politikwissenschaft von grundsätzlich anderer Art ist als in den Naturwissenschaften und dass daher die Politikwissenschaft auch eine besondere Art von Wissen hervorbringen muss, welches Voegelin als „noetische Interpretation“ bezeichnet.[230]

Die Gründe, die Voegelin andeutet, legen jedoch nur sehr bedingt die Konsequenz der Wesensverschiedenheit von Politikwissenschaft und Naturwissenschaft nahe.[231] Der erste Grund gibt eine Bedingung wieder, die in genau derselben Weise auch für die Naturwissenschaft gilt, stößt sie doch ebenfalls auf schon vorhandene Deutungen der Natur, bei denen es sich, je nachdem, um praktisch nützliche Kenntnisse oder um abergläubische Vorstellungen handeln kann. Der dritte Grund besagt lediglich, dass es bei den Deutungen der Politik anders als innerhalb der Naturwissenschaften nicht nur eine durch unterschiedliche wissenschaftliche Lager, sondern auch eine durch unterschiedliche politische Lager bestimmte Konkurrenz gibt. Zudem kann man wohl konstatieren, dass die Lagerkämpfe in den Gesellschaftswissenschaften zuweilen noch etwas unversöhnlicher ausgetragen werden als in den Naturwissenschaften, weil es in den Gesellschaftswissenschaften viel schwieriger ist, empirisch zwischen konkurrierenden Theorien zu entscheiden. Auch haben politikwissenschaftliche Theorien typischerweise einen weniger formalen und deduktiven Stil und Charakter als naturwissenschaftliche Theorien. Es würde jedoch zu weit gehen, aus diesen Unterschieden zu folgern, dass die Politikwissenschaft ein grundsätzlich anderer Typus von Wissenschaft ist als die Naturwissenschaften. Allein der zweite Grund könnte diese Konsequenz rechtfertigen. Allerdings erläutert Voegelin weder, ob und wie infolge dieser Selbstbezüglichkeit die konventionelle Theoriebildung Gefahr läuft zu scheitern, noch zeigt er, wie die „noetische Interpretation“ derartige Probleme vermeidet. Aus dem ersten Teil von Voegelins Aufsatz ergeben sich also keine stichhaltigen Gründe für die Vorteile oder die Notwendigkeit des noetischen Verfahrens.

[229] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 284-285.

[230] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 287.

[231] Ich untersuche hier nur die Gründe, die Voegelin für diese These anführt. Eine Untersuchung, ob diese These, für die gewiss bessere Argumente ins Feld geführt werden können, grundsätzlich richtig ist, würde an dieser Stelle zu weit führen. Für die jüngere Diskussion dazu vgl. Shapiro, Flight from Reality, a.a.O.

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