Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie |
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Auf die Unklarheiten, die sich durch die unterschiedlichen Formen von Realitätsverlust, von denen Voegelin spricht, ergeben, wurde bereits hingewiesen. An dieser Stelle ist daher vor allem die grundsätzliche Frage zu stellen, ob Realitätsverlust im Voegelinschen Sinne das politische Chaos nach sich zieht? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man geneigt sein, diese Frage ohne jedes Zögern zu bejahen. Wenn die Bürger und insbesondere die Politiker das Gefühl für die Grenzen ihrer Möglichkeiten verlieren, vollkommen unrealistische Wünsche hegen oder gar utopisch-weltfremde Vorstellungen davon haben, was überhaupt möglich ist, dann steht allerdings zu befürchten, dass eine chaotische Politik dabei herauskommt. Nach genauerer Untersuchung von Voegelins Äußerungen stellt sich jedoch heraus, dass es gar nicht dies ist, was er mit Realitätsverlust meint. Unter Realitätsverlust versteht Voegelin vielmehr die Nicht-Anerkennung einer bestimmten metaphysischen Seinsrealität und insbesondere des „Partizipierens“ des Menschen am transzendenten göttlichen Seinsgrund. Zur besseren Unterscheidung kann das, was Voegelin unter Realitätsverlust versteht, als spiritueller Realitätsverlust bezeichnet werden. Wie vehält sich nun der spirituelle Realitätsverlust zum gewöhnlichen Realitätsverlust? Zieht ein spiritueller Realitätsverlust auch einen Realitätsverlust auf pragmatischer Ebene nach sich? Diese Annahme ist wenig einleuchtend. Warum sollte denn beispielsweise ein Mensch, der nicht an die Existenz eines transzendenten Seins glaubt, weniger als andere Menschen dazu in der Lage sein, die Grenzen des Möglichen zutreffend einzuschätzen? Interessanterweise findet sich in Voegelins gesamten Werk kein einziger stichhaltiger empirischer Beleg, der diese Annahme stützen könnte. Umgekehrt spricht ebensowenig dafür, dass jemand, der über ein hohes Maß an spirituellem Realitätssinn verfügt, bessere Voraussetzungen für das Verständnis oder die Gestaltung der politischen Wirklichkeit mitbringt. Voegelin leugnet auch keineswegs, dass die richtige Gesinnung und eine erfolgreiche pragmatische Politik nicht ein- und dasselbe sind. Wozu ist dann aber der richtige spirituelle Realitätssinn überhaupt wichtig? Wenn Voegelin im Zusammenhang mit dem Thema „Realitätsverlust“ immer wieder auf die totalitären Herrschaften anspielt, so liegt der Grund wohl darin, dass Voegelin sich von einer Verbreitung des Empfindens für die spirituelle Realität eine besondere immunisierende Wirkung gegen den Totalitarismus und totalitäre Demagogie erhoffte. Womöglich ging Voegelin davon aus, dass die in der „Spannung zum Grund“ lebenden Menschen schon deshalb nicht auf den Totalitarismus hereinfallen würden, weil die totalitäre Propaganda, der durch politische Bildung und Aufklärung auf der Sachebene so schwer beizukommen ist, dann ihrem innersten Lebensgefühl widersprechen würde. Eine oberflächliche Plausibilität kann man Voegelins Überlegung nicht absprechen. Nur vernachlässigt Voegelin völlig, dass auch andere Existenzweisen als nur die Existenz in der „Spannung zum Grund“ oder ihre kompakten Vorstufen dies leisten können. Hier wäre etwa an die Existenzweise eines Atheisten mit humanen moralischen Grundsätzen zu denken. Voegelins Menschenkenntnis und psychologisches Einfühlungsvermögen erweisen sich hier als außerordentlich engstirnig.
Die Schwierigkeiten, die bei Voegelin entstehen, wenn er die Notwendigkeit und Geeignetheit spirituellen Wahrheitsbesitzes zur Bewältigung der pragmatisch-politischen Realität begründen will, können auch als ein theologisches Problem seines mystischen Gottesverständnisses gedeutet werden. Denn dass das Leben nach den Gesetzen Gottes auch das pragmatisch klügste bzw. richtigste ist, ergibt sich aus der konventionellen christlichen Gottesauffassung zwanglos dadurch, dass Gott als allmächtiges Wesen die Unterwerfung des Menschen honorieren kann, und dass er als gütiges und allwissendes Wesen von vornherein vom Menschen nur fordert, was gut für ihn ist. In Voegelins mystisch ausgedünntem Gottesverständnis bleibt von Gott jedoch nur ein transzendentes Sein übrig (welches zudem bloß uneigenständiger Pol einer Beziehung ist). Die Attribute der Allmacht und Allwissenheit sind dadurch keineswegs mehr selbstverständlich gegeben. Lediglich die Güte ist - der von Voegelin beschriebenen Erfahrung des Hingezogenseins nach zu urteilen - noch vorhanden (wenn sie sich auch als Sirenengesang erweisen kann, wie es die transzendente Variante der Gnosis vor Augen führt, die sich bei Voegelin nicht auf einen falschen Gott sondern auf das richtige transzendente Sein in der falschen Weise bezieht). Es fehlt bei diesem ohnmächtigen transzendenten Sein aber jede Gewähr, dass die spirituell richtige, nach der „Spannung zum Seinsgrund“ ausgerichtete Existenzweise auch in pragmatischer Hinsicht die richtige ist. Sie könnte ja auch genau das Gegenteil davon sein.