Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Voegelins Leben und Werk
3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften
4 Voegelins Kritik der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“
    4.1 Voegelins Kritik der philosophischen Grundlagen der Reinen Rechtslehre
    4.2 Immanente Kritik: Grenzen der „Reinheit“ der Rechtlehre
    4.3 Fundamentalkritik: Angriff auf Kelsens Positivismus
    4.4 Die politische Motivation von Voegelins Kritik
5 Kelsens Voegelin-Kritik
6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht
7 Schluss
8 Bibliographie

4.4 Die politische Motivation von Voegelins Kritik

Voegelin betrachtete die Reine Rechtslehre - durchaus mit einigem Recht - als die Rechts- und Staatslehre der Österreichischen Republik par excellence und genau als diese bekämpft er sie im „Autoritären Staat“. Voegelins eigene Staatsauffassung erscheint im „Autoritären Staat“ sehr stark bestimmt durch das nationalstaatliche Model, angereichert mit Vorstellungen, die seiner Rezeption der autoritären (Dollfuß, Hauriou) und totalitären Staatstheorie (Moussolini, Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber, Ernst Jünger) entspringen.[116] Naturgemäß muss der österreichische Staat nach diesem Maßstab prekär erscheinen. Das gilt schon für die Monarchie, in der die „seelische Formung der Bevölkerung des Territoriums zu einem politischen Volk .. überhaupt nicht erreicht“[117] wird. Zudem konnte die „staatliche Machtorganisation“ in der Monarchie nie dasselbe „Autoritätsgewicht“ erwerben, wie die anderer westeuropäischer Nationen, weil „das politische Volk, das die Machtorganisation als den Ausdruck seines politischen Existenzwillens erlebt, sich nicht entwickelt hat.“[118] Die Folge dieser mangelhaft ausgeprägten Nationalstaatlichkeit besteht darin, dass die österreichische Politik keinen wirklich politischen, sondern nur einen gleichsam „administrativen“ und „apolitischen“ Stil besitzt. Wurde in der Monarchie dieser „apolitische Charakter“ wenigstens noch „durch die autoritären Züge ausgewogen .., die das politische Gebilde aus den Quellen des `Reiches' hatte, vor allem durch die Person des `Kaisers'“,[119] so ist die Staatlichkeit der Republik nur noch administrativer Natur und „die herrschende Verfassungslehre dieses politischen Gebildes, die reine Rechstlehre, zeigt in idealtypisch vollkommener Weise die Züge, die wir eben als die des 'administrativen Stils' herausgearbeitet haben.“[120] Das ist durchaus etwas verächtlich gemeint, spricht Voegelin an anderer Stelle doch von „der Typenlehre Max Webers und der reinen Rechtslehre Kelsens“ sogar als von Versuchen, „auf methodisch verschiedener Basis die Verfallserscheinung der 'Legalität' zu rationalisieren.“[121] Erst mit der Errichtung des autoritären Staates ändert sich die Situation nach Voegelins Einschätzung wieder zum besseren, denn „es sind existentielle Schritte in der Staatswerdung Österreichs geschehen, in dem Sinne, daß die obersten Staatsorgane durch die politische Situation legitimiert als die Träger des Willens zur Existenz des Staates Österreich entscheidend auftraten.“[122]

Um Voegelins Polemik gegen die österreichische „Administrativstaatlichkeit“ richtig einschätzen zu können, muss kurz auf den Politikbegriff von Carl Schmitt eingegangen werden, der Voegelin merklich beeinflusst hat.[123] Zu den wesentlichen Komponenten von Carl Schmitts Politikbegriff[124] gehören: 1. Die Unterscheidung von Freund und Feind. 2. Die Souveränität als eine in keiner Weise gebundene Macht. 3. Die Betonung der tatsachenschaffenden Entscheidung. Auf Voegelin haben davon offenbar die 2. und 3. Komponente abgefärbt.[125] Man sieht leicht, dass die 2. Komponente mit dem Prinzip der Verfassungsstaatlichkeit, das nur einen durch Verfassungsnormen gebundenen Souverän zulässt, schwer vereinbar ist. Daher rührt die Polemik gegen den Verfassungsstaat als einen bloß administrativen und nicht wirklich politischen Staat. Und daher rührt insbesondere Voegelins Vorwurf gegen Kelsen und die Reine Rechtslehre, das Verfassungsrecht zum Privatrecht zu machen,[126] und dem Staat keine höhere „Dignität als einem Briefmarkensammlerverein“ zuzugestehen.[127] Und aus dem u.a. von Carl Schmitt übernommenen politischen Existentialismus erklärt es sich auch, wenn Voegelin Kelsen „Normfetischismus“ vorwirft und ihm, weil er für den Verfassungsstaat eintrat, eine „Angst vor dem Ungewissen“ unterstellt.[128]

Vor diesem Hintergrund muss nun auch die von Voegelin vorgenommene Einordnung von Kelsens Reiner Rechtslehre in die österreichische Verfassungsgeschichte verstanden werden, die zu den schwächsten Teilen seiner Auseinandersetzung mit Hans Kelsen im „Autoritären Staat“ gehört. Wie bereits angemerkt, sieht Voegelin in Kelsens reiner Rechtslehre die Verfassungslehre eines „apolitischen“, bloß „administrativen“ Staates. Voegelin geht sogar soweit, die Reine Rechtslehre in die Tradition eines politischen Quietismus der österreichischen Staatswissenschaften einzuordnen, der noch in die Zeit der Restauration zurückreicht,[129] und der sich auf Grund der Tatsache, dass die österreich-ungarische Monarchie als Vielvölkerstaat eine anderen europäischen Staaten vergleichbare Entwicklung zum Nationalstaat nicht durchmachen konnte, in einer dem positiven Staats- und Verwaltungsrecht verhaftet bleibenden Staatslehre fortsetzte. Diese Einordnung von Kelsens Lehre in einen Zusammenhang „unpolitischer“ Staatslehren verwundert ein wenig, wirft Voegelin ihr an zahlreichen Stellen doch ihren vermeintlich eminent politischen Charakter und ihren Einsatz als Waffe im politischen Meinungsstreit vor.[130] Zudem sind geistig verwandte rechstpositivistische Strömungen ja auch in anderen Staaten unter ganz anderen zeithistorischen Bedingungen aufgekommen.[131] Zur Krönung seiner Polemik gegen die Reine Rechtslehre versteigt Voegelin sich schließlich zu einem völlig deplatzierten Vergleich zwischen Kelsen und dem rassistischen Staatswissenschaftler Ludwig Gumplowicz, den er auf der allzu dünnen Grundlage anstellt, dass beide in der einen oder anderen Form einen Naturalismus vertreten hätten.[132]

Zusammenfassend ist zu Voegelins Auseinandersetzung mit der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“ wohl folgendes zu sagen: Die philosophisch erkenntnistheoretische Einordnung von Kelsens Reiner Rechtslehre in den Neukantianismus und ihre Kritik aus einer empirischen Perspektive (die bei Voegelin zwar ontologisch verbrämt auftritt, aber durch einen später folgenden Hinweis auf die empirisch ausgerichteten Rechtswissenschaftler Felix Stoerk und Friedrich Tezner immerhin geistesgeschichtlich plausibel unterfüttert wird[133] ) ist aufschlussreich und zeigt einige vielleicht nicht genügend reflektierte Voraussetzungen der Reinen Rechtslehre auf. Weiterhin trägt Voegelin eine Reihe immanenter Kritikpunkte gegen die Reine Rechtslehre zusammen, die zumindest ernsthafte Berücksichtigung verdienen, wenn sie sich auch größtenteils aus dem System der Reinen Rechtslehre heraus schlüssig beantworten lassen. Weniger überzeugend und keinesfalls immer fair erscheint dagegen Voegelins politische Beurteilung der Reinen Rechtslehre. Nicht nur, dass er nicht immer sauber zwischen der Reinen Rechtslehre als solcher und dem politischen Engagement ihres Erfinders Hans Kelsen unterscheidet, auch die Rückführung von (vermeintlichen) politischen Irrtümern auf weltanschauliche Fehlleistungen („positivistische Geistzerstörung“) ist in ihrer undifferenzierten Form nicht nachvollziehbar und vertieft eine politische Auseinandersetzung ebenso gewollt wie unnötig ins Grundsätzliche. Nicht, dass Voegelin einen anderen politischen Standpunkt einnahm als Kelsen und ihn von diesem Standpunkt aus kritisiert, ist ihm vorzuwerfen. Doch welchen Standpunkt Voegelin einnahm, und aus welchen Gründen er es tat, hinterlässt einen zweideutigen Eindruck. Zwar darf nicht vergessen werden, dass der autoritäre Staat Österreichs, für den Voegelin sich engagiert hat, anders als Nazi-Deutschland nicht exzessiv verbrecherisch war. (Insofern erübrigt sich eine moralische Kritik, wie sie bei deutschen Gelehrten dieser Zeit wie Carl Schmitt oder Arnold Gehlen angebracht sein könnte.) Aber Voegelins Anknüpfung an die autoritäre und totalitäre Staatsphilosophie seiner Zeit führt dazu, dass er die österreichische Demokratie nicht bloß aus pragmatischen Gründen ablehnte, etwa weil sie schlecht funktioniert hätte,[134] sondern vor allem aus prinzipiellen Erwägungen, weil sie seinen damaligem Auffassungen von der Substanz und dem Wesen eines modernen Nationalstaates widersprach.[135] Als eine Apologie in eigener Sache muss man Voegelins spätere Behauptung werten, der „Autoritäre Staat“ sei sein erster größerer Versuch gewesen, die „Rolle der Ideologien linker wie rechter Couleur“ zu erfassen.[136] Die linken Ideologien behandelt Voegelin im „Autoritären Staat“ gar nicht und an die rechten Ideologien knüpft er mit gewissen Vorbehalten sogar an. Kritisiert wird allein die liberale Staatsauffassung Hans Kelsens.[137]

[116] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 7-54. - Sigwart bezeichnet die Carl Schmitt-Rezeption im „Autoritären Staat“ als „fundamental-kritisch“ (Sigwart, a.a.O., S. 202). Dagegen spricht jedoch die von ihm selbst herausgearbeitete Übernahme zahlreicher grundlegender Kategorien Schmitts durch Voegelin. Kritische Töne fehlen Voegelins Schmitt-Rezeption im „Autoritären Staat“ fast vollkommen. Man kann es kaum als Kritik deuten, wenn Voegelin anmerkt, dass der Begriff des „totalen Staates“ eher ein politisches Symbol als ein wissenschaftlicher Begriff sei. Dies gilt umso mehr, als Voegelin ausdrücklich sagt, dass „die glückliche Prägung Schmitts zu einer politischen Funktion des Ausdrucks geführt [hat], die gleichfalls den systematischen Rahmen sprengt, den ihr Urheber um ihn gezogen hat.“ Voegelin betrachtet den Begriff des „totalen Staates“ bei Carl Schmitt also sehr wohl als wissenschaftlichen Begriff, der erst durch seinen Erfolg nachträglich ein politisches Symbol geworden ist.

[117] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 2.

[118] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 2.

[119] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 3.

[120] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 3.

[121] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 157.

[122] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 3.

[123] Vgl. Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat, a.a.O., S. 44ff. - Vgl. Claus Heimes: Antipositivistische Staatslehre, S. 35ff.

[124] Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933. - Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 7. Auflage, Berlin 1996 (1922), S. 19f.

[125] Vgl. dazu auch Sigwart, a.a.O., S. 161ff. - Meine Deutung unterscheidet sich allerdings von der Sigwarts. Insbesondere scheint mir Sigwart den Einfluss Max Webers auf Voegelin und besonders auf dessen Wissenschaftsethos stark zu überschätzen.

[126] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 126.

[127] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 127.

[128] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 153. Voegelin steigert sich an dieser Stelle geradezu in eine Mythologie von „Chaos“ und „Ordnung“ hinein, deren Vernachlässigung er dem Rechtspositivismus ankreidet. - Vgl. auch Sandro Chignola, „Fetishism with the Norm“ and Symbols of Politics. Eric Voegelin between Sociology and Rechtswissenschaft (1924-1938), S. 59ff. Sandro Chignola scheint die politische Brisanz und den ideologischen Hintergrund von Voegelins Vorwurf des „Normfetischismus“ allerdings nicht zu bemerken. Dieses Versäumnis ist nicht uncharakteristisch für einen großen Teil der Voegelin-Sekundärliteratur, die Voegelins Denken ganz in seinen eigenen Kategorien deutet und nicht zuletzt dadurch häufig jede kritische Distanz vermissen lässt.

[129] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 128.

[130] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 113 (§ 10), S. 116-118 (§ 12), S. 125-127 (§ 17, § 18).

[131] Voegelin selbst hatte mit der Souveränitätstheorie Dickinsons eine geistig verwandte amerikanische Theorie einige Jahre früher ausführlich besprochen (siehe oben).

[132] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 135. Dort schreibt Voegelin wörtlich: „Die naturwissenschaftliche Rassentheorie hat bei ihm [Gumplowicz] eine ganz ähnliche Funktion der Geistzerstörung wie später bei Kelsen die materialistische Geschichtsauffassung.“

[133] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 136-143.

[134] So die Deutung Sigwarts, die mir verfehlt erscheint (Vgl. Sigwart, a.a.O., S. 214). Insbesondere irrt sich Sigwart, wenn er glaubt, dass Voegelin „am Postulat der Werturteilsfreiheit“ festhält (ebd.). Die politische Stellungnahme zugunsten des Schuschnigg-Regimes ist in Voegelins „Autoritärem Staat“ deutlich herauszuhören und auch die ätzende Kritik an der Reinen Rechtslehre - Voegelin spricht in Bezug auf die Reine Rechtslehere immerhin von einem „System der Kampfbegriffe“ (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 116) und einer „Verfallserscheinung“ (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 157) - ist in hohem Maße politisch motiviert.

[135] Dass es mit England und Frankreich erfolgreiche moderne europäische Demokratien gab, erklärte Voegelin sich damit, dass auch diese Demokratien „Totalitätselemente“ enthielten und im übrigen ihre „Totalitätskämpfe“ schon hinter sich bzw. noch vor sich hätten. (Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 4.)

[136] Vgl. Voegelin, Autobiographical Reflections, S. 69.

[137] Erfreulich klar wird dies von Henkel hervorgehoben. Vgl. Henkel, Positivismuskritik und autoritärer Staat, a.a.O., S. 63.

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