Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens |
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Voegelins Ansicht nach wirken sich die Schwächen der neutkantianischen erkenntnistheoretischen Grundlage sehr konkret in der Reinen Rechtslehre aus. Im Rückgriff auf seine Fundamentalkritik der neukantianischen Erkenntnisprinzipien leitet er eine ganze Reihe von Einwänden gegen die Reine Rechtslehre ab. Teilweise sind diese Einwände funamentalkritischer Natur und zielen vor allem auf die politisch-ideologiekritischen Implikationen der Reinen Rechtslehre und die liberale Staatsauffassung Kelsens ab. Aber ein Teil der Kritik Voegelins kann auch als immanente Kritik verstanden werden, die Voegelin in Fortführung seiner früheren Aufsätze zur Reinen Rechtslehre entwickelt. Dieser Teil von Voegelins Kritik soll zunächst untersucht werden. Er lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Reinheit der Rechtslehre kaum aufrecht erhalten werden kann, sondern an mindestens fünf Punkten Gefahr läuft, durchbrochen zu werden:
1) Es gelingt der Reinen Rechtslehre nicht, sich bloß auf die Untersuchung von Normen zu beschränken, sie muss als Zweites auch die Akte hinzuziehen, in denen Normen gesetzt (bzw. angewendet oder vollzogen) werden. Die Akte bilden aber einen zusätzlichen Gegenstandsbereich, dessen Einbeziehung die Gegenstandseinheit und damit die Reinheit der Rechtslehre gefährdet.[77] Nur mit der durchaus fragwürdigen, da auf starken neukantianischen metaphysischen Voraussetzungen beruhenden Hilfskonstruktion der Grundnorm lassen sich die Akte, wenn überhaupt, in der normativen Sphäre verankern.[78]
2) Die Rechtsanwendung ist in hohem Maße geprägt und beeinflusst durch die Rechtsdogmatik, die schon dadurch auf sie einwirkt, dass die Richter von Rechtswissenschaftlern ausgebildet werden.[79] Die Rechtsdogmatik ist aber im Delegationszusammenhang gar nicht explizit vorgesehen. Das System aus Akten und Normen, das den Delegationszusammenhang bildet, ist damit nicht geschlossen.
3) Der eigentliche Gegenstand der Reinen Rechtslehre, das Recht, ist historisch-empirisch vorgegeben. Die Reine Rechtslehre übernimmt es, gewissermaßen naiv, von der Rechtsdogmatik. Nun beziehen sich aber die traditionell überlieferten Rechtsgebiete wie Strafrecht, Zivilrecht, öffentliches, also Verfassungs- und Verwaltungsrecht auf sehr unterschiedliche Lebensbereiche, in denen jeweils eigene Bedingungen gelten, und die sich zum Teil auch nur unterschiedlich gut rechtlich regeln lassen.[80] (Hier zeigen sich wieder die erkenntnisrelevanten ontologischen Vorbedingungen verschiedener Gegenstandsbereiche, die von der neukantianischen Erkenntnistheorie nach Voegelins Ansicht nicht genügend berücksichtigt werden.) Die Rechtsgebiete, die im Grunde eine Vielzahl von eigenen Rechtsordnungen bilden, können nur mühsam durch die „Einführung des Staates“ als normsetzender Instanz bzw. der staatlichen Verfassung als oberster Norm zu einer Einheit der Rechtsordnung zusammengefasst werden.[81]
4) Die Zwangsbewehrtheit lässt sich als definierendes Merkmal von Rechtsnormen nicht aufrecht erhalten. Nur ein Teil der Rechtsnormen ist überhaupt zwangsbewehrt. Besonders die Normen des Verfassungsrechts sind zum großen Teil schon deshalb davon ausgenommen, weil die Verfassung das Verhalten der Staatsgewalt regelt, neben der Staatsgewalt aber niemand mehr vorhanden ist, der ihr mögliches Fehlverhalten wiederum durch Zwang unterbinden oder bestrafen könnte. (Dieser Irrtum der Reinen Rechtslehre beruht Voegelins Ansicht nach ebenfalls auf der Vernachlässigung der ontologischen Eigengesetzlichkeiten der durch unterschiedliche Rechtsgebiete geregelten Lebensbereiche.) Fällt die Zwangsbewehrtheit als definierendes Merkmal weg, so bleibt auch der Ausweg verschlossen, die Einheit der Rechtsordnung in ihrem Charakter als Zwangsordnung zu sehen.[82]
5) Zur genauen Klärung der Bedeutung vieler Wörter und Begriffe, die in den Gesetzestexten vorkommen, muss vielfach auf nicht-juristische „Voraussetzungswissenschaften“[83] zurückgegriffen werden. Dies gilt besonders für das Verfassungsrecht (im Gegensatz zum Bürgerlichen Gesetzbuch enthält die Verfassung ja kaum Definitionen), das einer „soziologischen“ Staatslehre als „Voraussetzungswissenschaft“ bedarf.[84]
Von diesen fünf Einwänden können die ersten drei die Reine Rechtslehre nur sehr bedingt gefährden. Dass die Reine Rechtslehre besonders in der Rechtsdynamik neben Normen auch Akte mit einbezieht, bedeutet insofern keinen Bruch mit der rein normativen Betrachtungsweise als die Akte nur hinsichtlich ihrer normativen Bedeutung thematisiert werden.[85] Die Rechstlehre fragt etwa, ob für einen bestimmten Akt eine Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist, ob den Verfahrensvorschriften genüge getan wurde, und ob der Akt damit gültig oder ungültig ist. Aber sie fragt nicht, wie der Akt kausal zu Stande gekommen ist, d.h. aus welchen Ursachen der Akt so und nicht anders ausgefallen ist. Insofern erscheint es auch nicht ganz treffend, wenn etwa Günther Winkler in seiner Darstellung von Voegelins Kritik schreibt, Kelsen sehe „die Akte bloß als beliebige Inhalte von Rechtsnormen“, klammere sie „wegen seines einseitigen kategorialen Denkansatzes aus der Rechtsbetrachtung aus“ und verweise sie „als Seinsphänomen in die Soziologie“.[86] Richtig ist vielmehr, dass Kelsen in der Reinen Rechtslehre die Akte einzig unter rechtlich-normativen Gesichtspunkten betrachtet. Damit sind sie aber weder „beliebige Inhalte von Rechtsnormen“ noch werden sie aus der Rechtsbetrachtung ausgeklammert. Ausgeklammert wird lediglich die Frage ihres kausalen Zustandekommens.
Die Lehre von der Grundnorm, die Voegelin in diesem Zusammenhang kritisch erörtert, gehört in der Tat zu den schwerer fassbaren philosophischen Voraussetzungen der Reinen Rechtslehre. Voegelin hält die Grundnorm für die Reine Rechtslehre deshalb für unerlässlich, weil seiner Ansicht nach der Delegationszusammenhang nur dann rein normativer Natur sein kann, wenn er in einer Norm und nicht in einem Akt (z.B. der Verfassungsgebung) verankert ist. Zugleich stellt er es so dar, als sei die Lehre von der Grundnorm ohne spezifisch kantianisch-transzendentalphilosophische Voraussetzungen überhaupt nicht zu verstehen. In Wirklichkeit drückt die Grundnorm aber nur die Behauptung der normativen Gültigkeit der Rechtsordnung aus.[87] Die Abhängigkeit von der sehr voraussetzungsreichen kantianischen Philosophie ist dabei nicht allzu stark, zumal Kelsen, auch wenn er eine Analogie zwischen der Annahme der Grundnorm und dem transzendentalphilosophischen Verfahren Kants herstellt,[88] die Grundnorm gerade deshalb ausdrücklich als eine bloß „gedachte“ Voraussetzung apostrophiert,[89] weil er - anders als Kant und die meisten kantianischen Philosophien - Normen grundsätzlich nicht für begründbar (auch nicht durch die Vernunft begründbar) hält.
Mit der Trennung von kausaler und normativer Ebene erledigt sich auch der zweite Einwand: Die Einwirkung der Rechtsdogmatik auf die Rechtsprechung gehört der Sphäre der Kausalbeziehungen an und betrifft damit lediglich die für die Reine Rechtslehre unwesentliche Frage, aus welchen Ursachen ein Rechtsakt so oder anders ausfällt. Ein Rechtsgutachten oder ein wissenschaftlicher Aufsatz, den ein Rechtswissenschaftler verfasst, hat als solcher ja noch keinerlei rechtliche Wirkung, sondern gibt lediglich die Rechtsmeinung des Verfassers wieder.[90] Dass solche Rechtsmeinungen für die Rechtsanwender Entscheidungsgrundlage werden können, ist dem Kausalzusammenhang zuzuordnen.[91]
Der dritte Einwand, der die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Rechtsgebiete und der darin zu regelnden Lebensbereiche betrifft, lässt sich sehr leicht damit beantworten, dass die verschiedenen Rechtsgebiete allesamt im Delegationszusammenhang erfasst und in der Verfassung verankert sind. Voegelin ist sich dessen natürlich bewusst, seine Kritik zielt vor allem darauf, dass die Reine Rechtslehre den Staat seiner Ansicht nach in einem umfassenderen, insbesondere auch vorrechtlichen Sinne voraussetzen muss, als sie dies zugesteht. So ist es wohl zu verstehen, wenn Voegelin die „Einführung des Staates“ in die Reine Rechtslehre als „ein dem Erkenntnisprozeß vorangehender Akt existentieller Relevanzfeststellung“[92] beschreibt. Nun bezieht sich die Reine Rechtslehre in der Tat auf einige elementare empirische Voraussetzungen, wie die Tatsache, dass es überhaupt eine Rechtsordnung gibt, dass es rechtssetzende Institutionen und rechtsanwendende Instanzen gibt etc., Tatsachen, die ja - selbstverständlich wie sie seien mögen - nicht a priori hergeleitet werden können. Dass die Reine Rechtslehre sich auf empirische Phänomene bezieht bedeutet jedoch noch nicht, dass sie diese Phänomene auch in ihrer ganzen empirischen Bedeutungsfülle voraussetzen müsste, wie Voegelin es offenbar für notwendig hält. Es ist ja gerade das Grundanliegen der Reinen Rechtslehre, das Recht ausschließlich unter dem normativ-rechtlichen Gesichtspunkt zu untersuchen, wobei sie von allen anderen Bezügen, empirisch-kausalen ebenso wie ethischen und politischen, abstrahiert.[93] In dieser Hinsicht ist der Rückgriff auf den Staat bzw. die Verfassung in der Reinen Rechtslehre nicht problematischer als der Rückgriff auf andere Rechtsgebiete und beinhaltet keine Inkonsequenz. Die unterschiedliche Regelbarkeit verschiedener Lebensbereiche durch Rechtsnormen schließlich ist eine empirische bzw. rechtssoziologische Frage, die die Reine Rechtslehre nur bedingt berührt. Im Zweifelsfall hat die geringere rechtliche Regelbarkeit bestimmter Lebensbereiche nur zur Folge, dass den Rechtsanwendern in diesen Bereichen größere Ermessenspielräume verbleiben. Für die Reine Rechtslehre ist das unproblematisch.
Gravierender sind der vierte und fünfte Punkt, an denen Voegelin die Reinheit der Rechtslehre bedroht sieht. Besonders der Zwangsbewehrtheit als wesentliches Merkmal von Rechtsnormen widmet Voegelin einen recht ausführlichen Abschnitt.[94] Voegelins Haupteinwand lautet, dass es in jeder Rechtsordnung auch Rechtsnormen gibt, ja geben muss, die nicht zwangsbewehrt sind. Vor allem gilt dies für die Normen des Verfassungsrechts, die das Handeln der Staatsorgane regeln. Denn da irgend eine Instanz die höchste zwingende Instanz sein muss, wer sollte dann wiederum die Normbefolgung dieser Instanz erzwingen? Die Normbefolgung der höchsten Staatsorgane wird daher laut Voegelin auch nicht durch Normkontrolle sondern, wenn überhaupt, durch „flexible Situationskontrolle“ ausgeübt, indem beispielsweise mehrere Kammern an der Gesetzgebung beteiligt werden, die aufeinander eine Art von Kontrolle ausüben.
Gerade im Hinblick auf diese Problematik wurde aber - nicht zuletzt von Kelsen - eine normenkontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit entworfen, die zumindest die rechtliche Nichtigkiet von nicht verfassungskonformen Akten der Staatsorgane feststellen kann. (Inwieweit man diese Art der Sanktion noch unter den Begriff „Zwang“ fassen kann, sei hier einmal dahin gestellt.[95] ) Voegelin zieht die Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang jedoch gar nicht ernsthaft in Betracht. Die Gründe dafür sind weder besonders philosophischer noch von pragmatischer Natur,[96] sondern in dem von Carl Schmitt beeinflussten normativen Politikverständnis Voegelins zu suchen.[97] Ganz im Sinne von Carl Schmitt polemisiert Voegelin mit Bezug auf den österreichischen Verfassungsgerichtshof gegen die „Entpolitisierung der politischen Instanzen durch ihre Unterordnung unter eine sanktionierende Instanz“.[98] Dass Voegelin so sehr darauf beharrt, dass das Handeln der höchsten Staatsorgane nur begrenzt rechtlich regelbar sein soll, hat also weniger mit der Natur des durch das Verfassungsrecht geregelten „Seinsbereiches“ zu tun als vielmehr mit einem ganz bestimmten Politikverständnis Voegelins, demzufolge die staatliche Gewalt, soll sie ihres „politischen“ Charakters nicht verlustig gehen, nicht durch ein sanktionsbewehrtes Verfassungsrecht gezügelt werden darf.
Mit dem fünften Punkt, dass die Reine Rechtslehre die Rechtswissenschaft der allgemeinen Staatswissenschaft wie auch anderer Wissenschaften als „Voraussetzungswissenschaften“ bedarf, trifft Voegelin allerdings einen Punkt, auf den man in Kelsens Darstellungen der Reinen Rechtslehre nicht so leicht eine Antwort findet. Man könnte sich im Extremfall sogar vorstellen, dass sich durch die Aushöhlung zentraler staatsrechtlicher Begriffe (etwa durch eine politisch entsprechend interessierte Staatslehre) der Charakter der Verfassung ändert.[99] Dieser Fall wäre nicht mehr der zuvor beschriebenen bloß kausalen Einwirkung der Rechtsdogmatik auf richterliche Auslegung durch die Erarbeitung von „Entscheidungsgrundlagen“ vergleichbar. Denn über die Ansichten von Rechtswissenschaftlern kann sich ein Richter hinwegsetzen, aber wohl kaum über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bzw. das allgemeine Sprachverständnis.
Wenn Voegelin somit auf eine Lücke im Gedankengebäude der Reinen Rechtslehre aufmerksam macht, dann freilich nicht, um sie zu schließen, sondern gerade weil er die Rechtslehre wieder ausdrücklich an eine philosophische und von „politisch-ethischen Postulaten“ (Kelsen) keineswegs freie Staatslehre binden wollte. Eine erste Nutzanwendung aus dieser Art staatswissenschaftlich informierter Rechtsinterpretation zieht Voegelin in seinem „Autoritären Staat“ sogleich selbst, wenn er es in einer später im Text folgenden Passage unternimmt, den Verfassungsübergang von 1934 auch juristisch als legalen Vorgang zu rechtfertigen, was auf Grundlage der Interpretationsprinzipien der Reinen Rechtslehre, wie Voegelin selbst einräumt, nicht zu machen ist.[100]
Voegelin ist aber wohl zuzubilligen, dass er mit dem Hinweis auf die semantischen Voraussetzungen der Rechtsauslegung auf ein Problem gestoßen ist, dass in der Reinen Rechtslehre weitgehend unberücksichtigt geblieben ist.[101]
[77] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 111-112 (§8).
[78] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 115-116 (§ 11).
[79] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 110-111 (§ 7).
[80] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 124.
[81] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 110-112 (§ 7, § 8).
[82] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 122-126 (§ 17).
[83] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 145.
[84] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 144-147.
[85] Vgl. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, Nachdruck der 2. Auflage, Wien 1992 (1960), im folgenden zitiert als: Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 2. - Voegelin konnte die 2. Auflage der Reinen Rechtslehre, auf die hier verwiesen wird, und die erst 1960 erschienen ist, natürlich noch nicht kennen. Für die inhaltliche Diskussion, um die es hier geht, ist dieser Anachronismus jedoch hinnehmbar.
[86] Winkler, Geleitwort, S. XXVII, Hervorhebung im Original.
[87] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 223ff.
[88] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 205.
[89] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 204ff.
[90] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 352ff.
[91] Schwierigkeiten könnte der Reinen Rechtslehre höchstens der denkbare Fall bereiten, in dem die Vernachlässigung rechtsdogmatisch üblicher aber nicht gesetzlich fixierter Auslegungsregeln in einer richterlichen Entscheidung als Rechtsfehler betrachtet werden würde.
[92] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 111.
[93] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 78f.
[94] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 122-126 (§ 17). - Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 34ff.
[95] Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 52/53, S. 55ff.
[96] Ein pragmatischer Grund gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich indirekt Voegelins später im Text folgender Erörterung des Grundrechtschutzes in der autoritären Verfassung entnehmen. Voegelin betrachtet den verbliebenen Grundrechtsschutz als einen Fremdkörper der autoritären Verfassung und empfiehlt dem Verfassungsgericht dringend sich für unzuständig zu erklären, sollte der entsprechende Fall auftreten. Eine Auseinandersetzung zwischen Regierung und Verfassungsgericht könne nur mit der „Kompromittierung“ des Gerichts ausgehen. (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 274.) Voegelins Argument ist jedoch nur in einem autoritären Kontext schlüssig, wo die Regierung tatsächlich die Macht hat, das Verfassungsgericht nach Belieben zu kompromittieren. Also lässt sich auch daraus kein allgemeingültiger Einwand gegen die Möglichkeit einer Normenkontrolle im „Seinsbereich“ (Voegelin) des Verfassungsrechts ableiten.
[97] Siehe dazu auch weiter unten die Ausführungen zur politischen Motivation Voegelins
[98] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 126. - Im Zusammenhang der Diskussion der Prüfung von Verordnungen durch den Bundesgerichtshof nach der autoritären Verfassung von 1934 spricht Voegelin später ähnlich polemisch vom „Weiterleben der Verfassungsideologie von 1920“ (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 275).
[99] Man überlege etwa wie unterschiedlich sich ein pluralistischer Demokratiebegriff und ein Demokratiebegriff im Sinne „homogener“ Volksdemokratie sich auf die Möglichkeit der Vertiefung der Europäischen Integration aus Sicht des Verfassungsrechts auswirken können. Spätestens wenn sich ein bestimmter Demokratiebegriff endgültig gegen einen anderen durchgesetzt hat, könnte man von einem stillschweigenden Verfassungswandel ausgehen (soweit die Interpretation der Verfassung vom Demokratiebegriff abhängt).
[100] Diese reichlich fragwürdige Rechtfertigungskonstruktion, bei der Voegelin sich eifrig auf „Sinnlinien“, „Sinnphänomene“ und „Seinsbereiche“ beruft, klingt dann etwa so: „Was immer geschah, war gültiges Verfassungsrecht - die Versuche der Deutung vom B.-VG. 1920/29 her waren, da dessen Funktion als Ordnung des Seinsbereiches sich stetig abschwächte im gleichen Maße zunehmend inadäquat.“ (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 180.)
[101] Vgl. dazu auch Voegelins Ausführungen in: Voegelin, Autoritärer Staat, S. 143-150 (§ 23), die keineswegs alle abzulehnen sind.