Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens |
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Voegelins Kritik setzt zunächst mit einer philosophischen Einordnung der Reinen Rechtslehre an. Die Grundprämissen der Reinen Rechtslehre sind Voegelins Ansicht nach motiviert durch spezifisch positivistische bzw. neukantianische metaphysische und erkenntnistheoretische Voraussetzungen.[69] Diese Voraussetzungen sind die Prinzipien der Methodenreinheit, der Gegenstandseinheit und der Konstitution des Gegenstandes durch das Erkenntnissubjekt. Unter Methodenreinheit ist dabei zu verstehen, dass alle Erkenntnisgegenstände eines Gegenstandsbereiches durch eine bestimmte Erkenntnismethode zu erfassen sind. Im Extremfall kann sich diese Forderung sogar auf die gesamte Wirklichkeit beziehen, sofern sie als ein Gegenstandsbereich aufgefasst wird. Dies ist nach Voegelins Ansicht im Neukantianismus der Fall, der die gesamte Wirklichkeit durch ein vorgegebenes System von Kategorien (bzw. Anschauungsformen) erfassen will.[70] Das Prinzip der Gegenstandseinheit besagt komplementär dazu, dass alle Gegenstandsbereiche in sich geschlossen und von anderen soweit trennbar sind, dass sie sich eben „methodenrein“ erfassen lassen. Beide Prinzipien gehen wiederum schlüssig aus dem Prinzip der Konstitution des Erkenntnisgegenstandes durch das Erkenntnissubjekt hervor, denn wenn der Erkenntnisgegenstand durch das Erkenntnissubjekt (nach Maßgabe apriorischer Kategorien) allererst konstituiert wird, dann ist dadurch sichergestellt, dass er auch methodenrein (mit denselben Kategorien) erkannt werden kann.
Diese Prinzipien kehren in der Reinen Rechtslehre in einer spezifisch abgewandelten, auf das Recht als den Gegenstand der Reinen Rechtslehre bezogenen Form wieder. Das Prinzip der Methodenreinheit findet sich in der Reinen Rechtslehre darin wieder, dass sie das Recht rein als Normordnung betrachtet, unter striktem Ausschluss aller kausalwissenschaftlichen („rechtssoziologischen“) Fragen, die die Rechtsordnung betreffen, wie etwa die Frage, warum bestimmte Gesetze erlassen werden, welche Wirkung ein Gesetz auf das Verhalten der Bürger ausüben wird etc. . Aus dem Prinzip der Gegenstandseinheit wird die Einheit der Rechtsordnung, die alle Rechtsgebiete innerhalb der einen staatlichen Rechtsordnung umfasst, so dass die Reine Rechtslehre sogar einen prinzipiellen Unterschied zwischen öffentlichem und privaten Recht leugnet. Das Prinzip der Konstitution des Gegenstandes durch das Erkenntnissubjekt geht vor allem in die Lehre von der Grundnorm ein, mit der die Rechtsordnung gewissermaßen verankert wird. Es wirkt sich darüber hinaus indirekt auf die Reine Rechtslehre aus, indem sie die historischen und empirischen Gegebenheiten, von denen sie faktisch immer noch abhängt, gar nicht erst thematisiert,[71] da diese Abhängigkeit von empirischen Voraussetzungen nicht zum Prinzip der Konstitution des Gegenstandes durch das Erkenntnissubjekt passt.
Bei seiner Kritik der Reinen Rechtslehre geht Voegelin nun so vor, dass er zunächst die Schwächen des Neukantianismus herausarbeitet, und dann zeigt, wie sich diese Probleme auch auf die Reinen Rechtslehre auswirken, und dort zu spezifischen Schwierigkeiten führen. Voegelins Kritik am Neukantianismus ist sehr grundsätzlicher Natur. So hält er dem Prinzip der Konstitution des Erkenntnisgegenstandes durch das Erkenntnissubjekt entgegen, dass die Erkenntnisgegenstände nicht in erster Linie durch das Erkenntnissubjekt konstituiert werden, sondern sich aus vorwissenschaftlichen Zusammenhängen ergeben. Insbesondere sind die Gegenstandsbereiche, ihre jeweilige Abgrenzung zueinander und - für Voegelin besonders wichtig - die Frage, welche Gegenstände überhaupt relevante Untersuchungsgegenstände sind, durch vorwissenschaftliche (lebensweltliche) Zusammenhänge bestimmt. Daher ist es von vorherein auch keinesfalls sichergestellt, ob und in welchem Maße ein bestimmter Gegenstandsbereich (oder „Seinsausschnitt“, wie Voegelin es nennt) methodenrein erkannt und von anderen Gegenstandsbereichen isoliert betrachtet werden kann.[72]
Besonders problematisch wirkt sich für Voegelin dabei aus, dass die Erkenntnisprinzipien des Neukantianismus (und speziell des Positivismus) am Maßstab der Naturwissenschaften gebildet und daher für die Sozialwissenschaften nur sehr bedingt brauchbar sind. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Erkenntnisbereich der Naturwissenschaften und dem der Sozialwissenschaften besteht für Voegelin nämlich darin, dass die Gegenstände in den Sozialwissenschaften nicht nur, wie der Neukantianismus annimmt, einer (epistemischen) Konstitution durch das Erkenntnissubjekt unterliegen, sondern zugleich auch Produkt einer „Realkonstitution“ sind, indem sie z.B. durch sprachliche Akte und entsprechende Handlungen hervorgebracht („konstituiert“) werden.[73] Wie bereits zuvor angemerkt, ist es allerdings fraglich, ob dieser Irrtum in der Reinen Rechtslehre überhaupt auftritt, und ob er, wenn er auftritt, die Ursache der ihr von Voegelin vorgeworfenen Irrtümer, insbesondere der Identifikation von Staat und Recht, ist. Eine weitere Folge, die im Positivismus Kelsens, wie Voegelin es sieht, sehr deutlich zu Tage tritt, ist die, dass der Mensch allein als „Naturwesen“ betrachtet wird (ein schlimmer „faux pas“ aus Voegelins Sicht!), und die „Geistnatur“ des Menschen, die für Voegelin auch und besonders eine spirituelle Seite einschließt, ignoriert wird.[74] Auch bei diesem Hinweis, der in Voegelins späterer Philosophie oft als Totschlagargument gegen Positivisten jeglicher Couleur eingesetzt wird, bleibt es sehr zweifelhaft, inwiefern er als Argument gegen die Reine Rechtslehre überhaupt greift.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Voegelins philosophische Kritik am Neukantianismus ausführlich zu untersuchen und die Frage zu erörtern, ob Voegelin die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Neukantianismus richtig beschreibt und inwieweit seine Kritik den Neukantianismus und den (davon zu unterscheidenden) Neupositivismus trifft. Dazu nur soviel: Voegelin bemüht sich nicht eigens, die Fehler innerhalb der philosophischen „Systeme“ des Neukantianismus zu suchen (was im Rahmen seiner staatswissenschaftlichen, aber nicht primär philosophischen Untersuchung aber auch kaum verlangt werden kann), sondern er kritisiert den Neukantianismus von einem anderen Standpunktpunkt aus. Sein eigener Standpunkt ist ersichtlich von Edmund Husserls Krisis-Schrift[75] beeinflusst, wobei aber auch Heidegger und Jaspers - beide werden im Text erwähnt[76] - Pate gestanden haben könnten. Damit knüpft er an philosophische Strömungen an die, mit jeweiligen Differenzierungen, das Erkenntnissubjekt wieder stärker dem Sein unterordnen und überhaupt der philosophischen Lebensbetrachtung vor der Erkenntnistheorie den Vorzug geben. Zumindest im Hinblick auf den transzendentalphilosophischen Ansatz der (neu)kantianischen Philosophie trifft Voegelins Kritik: Die Annahme, dass die Erkenntisgegenstände durch Kategorien und Anschauungsformen geordnet sind, impliziert immer auch ziemlich starke ontologische Voraussetzungen, die in der Regel ungerechtfertigt bleiben. So impliziert beispielsweise Kants Annahme, dass die Welt der Sinneserfahrungen (die „Erscheinungen“) notwendigerweise kausal geordnet ist, dass auch die Dinge selbst zumindest soweit vorstrukturiert sind, dass sie auf eine kausal geordnete Welt von Erscheinungen abgebildet werden können. Die - im Folgenden zu erörternde - Frage bleibt jedoch, ob sich diese Mängel der neukantianischen Erkenntnistheorie in der Reinen Rechtslehre überhaupt auswirken.
[69] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 102-108.
[70] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 104/105.
[71] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 109/110.
[72] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 106-108 (§ 4).
[73] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 108f. (§ 5).
[74] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 120.
[75] Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 3. Auflage, Hamburg 1996.
[76] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 105.