Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Voegelins Leben und Werk
3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften
4 Voegelins Kritik der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“
    4.1 Voegelins Kritik der philosophischen Grundlagen der Reinen Rechtslehre
    4.2 Immanente Kritik: Grenzen der „Reinheit“ der Rechtlehre
    4.3 Fundamentalkritik: Angriff auf Kelsens Positivismus
    4.4 Die politische Motivation von Voegelins Kritik
5 Kelsens Voegelin-Kritik
6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht
7 Schluss
8 Bibliographie

4.3 Fundamentalkritik: Angriff auf Kelsens Positivismus

Neben den eben diskutierten eher immanenten Kritikpunkten, gibt es noch eine Reihe von Aspekten, in denen Voegelin die Reine Rechtslehre sowie die politische Philosophie Kelsens, soweit sie über die Rechtslehre hinaus geht, noch viel grundsätzlicher angreift. Zu diesen zählen, (1) die Trennung von Rechtslehre und Rechtsoziologie,[102] (2) Kelsens Identifizierung von natürlicher und juristischer Person und dessen Rückführung subjektiver auf objektive Rechte,[103] (3) die Lehre von der Identität von Staat und Recht,[104] (4) Kelsens Vorstellungen einer Weltrechtsordnung[105] und ganz besonders (5) Kelsens Ideologiekritik.[106] Voegelins Diskussion dieser Aspekte von Kelsens Philosophie ist dadurch charakterisiert, dass sie überwiegend polemisch ausfällt, und dass Voegelin sich vergleichsweise wenig mit Kelsens Argumenten auseinandersetzt. Vielmehr leitet er seine Kritik weitgehend aus seiner eigenen Einordnung von Kelsens Philosophie als „positivistische Metaphysik“ ab. Sehr deutlich zeigt sich hier die Abkehr von der aufgeschlossenen Haltung gegenüber der Reinen Rechtslehre in Voegelins früheren Schriften.

Die Trennung von Rechtslehre und „Soziologie“ bei Kelsen wird von Voegelin so aufgefasst, dass die Rechtslehre alle legitimen Elemente einer geisteswissenschaftlichen Gesellschaftslehre bei sich monopolisiert, während die Soziologie nur als kausale „Naturwissenschaft“ zurückbleibt. Ausgeschlossen wird damit eine umfassende Gesellschaftswissenschaft, die zugleich Geisteswissenschaft aber nicht bloß Normwissenschaft im engeren Sinne der Reinen Rechtslehre ist.[107] Nun hat Kelsen die Gesellschaftswissenschaft, soweit sie nicht Rechtslehre ist, in der Tat als eine Kausalwissenschaft ähnlich den kausalen Naturwissenschaften verstanden. Aber die Reine Rechtslehre ist dabei - unabhängig von Kelsens tatsächlichen Ansichten über die Natur der Soziologie oder das Wesen des Menschen - mühelos mit der Ansicht vereinbar, dass der Mensch nicht bloß ein materielles sondern auch ein geistiges Wesen ist, und dass die Soziologie als Kausalwissenschaft auch geistige Kausalzusammenhänge untersucht. (Jede psychologische Gesetzmäßigkeit beschreibt ja im Grunde einen geistigen Kausalzusammenhang.)

Voegelins Kritik an Kelsens materialistischer Auffassung der Soziologie trifft kein wesentliches, sondern, wenn überhaupt, nur ein sehr kontingentes und zeitgebundenes Moment von Kelsens Philosophie.

Anders verhält es sich mit Kelsens Ablehnung solcher Arten von Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, bei denen explizit oder implizit beansprucht wird, aus der Untersuchung der Gesellschaft, der Geschichte oder auch der Geistnatur des Menschen verbindliche ethische Konsequenzen wissenschaftlich abzuleiten. Dieses Stück Kelsenscher Ideologiekritik gehört sicherlich zu den Kernelementen seiner Philosophie. Voegelin vertrat in enger Anknüpfung an die Anthropologie Max Schelers nun gerade einen solchen Typus von geisteswissenschaftlicher Anthropologie.[108] Nur verteidigt er diesen Ansatz nicht direkt, indem er Kelsens dagegen gerichtete Argumente angreift, sondern indirekt, indem er Kelsens wissenschaftstheoretische Auffassungen über das Verhältnis von Rechtslehre und Soziologie in einer Weise darstellt, die sie in sich widersprüchlich und hoffnungslos verworren erscheinen lässt.[109]

Gegen Kelsens Kritik des Begriffs der natürlichen Person in der Rechtslehre und gegen dessen Identifizierung des Staates mit der Rechtsordnung wendet Voegelin ein, dass auf diese Weise „notwendig alle Rechtsbegriffe verschwinden [müssen], die ihre Legitimation aus der Behauptung einer vom Norminhalt unabhängigen einzelmenschlichen oder sozialen geistigen Substanz schöpfen“.[110] Was mit diesem Einwand aber verkannt wird, ist die abstrahierende, eben rein auf den rechtlichen Gehalt bezogene Betrachtungsweise von Kelsens Reiner Rechtslehre. Diese schließt es keineswegs aus, bestimmte ethische Überzeugungen hinsichtlich einer „einzelmenschlichen oder sozialen geistigen Substanz“ zu vertreten. Aber wenn diese ethischen Überzeugungen Eingang in das Rechtssystem finden sollen, dann sollte dies dadurch geschehen, dass sie explizit kodifiziert werden, etwa durch einen Grundrechtekatalog, nicht dadurch, dass sie aus irgendwelchen im Gesetzestext vorkommenden oder in der Rechtsdogmatik gebräuchlichen Begriffen abgeleitet werden.

Dasselbe gilt natürlich für die Frage einer Weltrechtsordnung. Ob eine solche überhaupt eingerichtet werden soll, ist eine Wertfrage, die nicht dadurch präjudiziert wird, dass in der Reinen Rechtslehre eine Rechtsordnung nur dann als vollkommen (im rechtstechnischen Sinne) bezeichnet wird, wenn der individuelle Rechtsverletzer bestraft wird anstatt das Kollektiv, dem er angehört. Eine solche Präjudizierung wirft Voegelin der Reinen Rechtslehre jedoch vor, und er ist auf keinen Fall bereit zu akzeptieren, dass es als ideologisch gelten soll, wenn jemand meint, „dass die Forderung nach Ordnung der Verfassungssphäre durch Zwangsnormen und nach Erledigung politischer Gegensätze zwischen Staaten durch gerichtsförmiges Verfahren unter der Sanktion einer übergeordneten Macht die Zerstörung der politischen Substanz der Staaten bedeute“.[111] Indem Voegelin solcherart einen zentralen Topos rechtshegelianischer Staatsideologie aufgreift, bestätigt er jedoch nur die Kelsensche Ideologiekritik.[112]

Die Ideologiekritik Kelsens geht Voegelin denn auch besonders scharf an. Hat Voegelin Kelsens rein juristische Deutung des Begriffs der „natürlichen Person“ schon als „Auflösung der Person“[113] und den Staatsbegriff der Reinen Rechtslehre als „Auflösung des Staates“[114] gebrandmarkt, so spricht er in Bezug auf die Ideologiekritik gar von einem „System der metaphysischen Kampfbegriffe“,[115] womit er neben dem von Kelsen allerdings recht häufig erhobenen Ideologievorwurf den Vorwurf „Scheinprobleme“ zu behandeln oder im Rahmen der Rechtslehre „Soziologie“ zu betreiben meint. Da Voegelins eigener, normativ ontologischer Standpunkt, unter das Ideologie-Verdikt Kelsens fällt, musste er dessen Ideologiekritik natürlich ablehnen. Aber das allein erklärt noch nicht die aggressive Schärfe dieser Ablehnung. Sie wird nur verständlich wenn man den politischen Hintergrund von Voegelins „Autoritärem Staat“ berücksichtigt.

[102] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 113-115 (§ 10), S. 116/117, S. 119.

[103] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 121-122.

[104] Vgl. Voegelin, S. 122 (§ 16).

[105] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 126-127 (§ 18).

[106] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 116-118 (§ 12).

[107] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 120.

[108] Max Scheler legte großen Wert darauf, dass der Mensch als Geistwesen in allen Seinsschichten, einschließlich dem transzendenten Seinsgrund verwurzelt ist. (Vgl. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 14. Auflage, Bonn 1998 (1928), S. 38ff., S. 87ff.) Wenn Voegelin sich auf die philosophische Anthropologie beruft, dann meint er vor allem die von Max Scheler und nicht die von Schelers Nachfolgern Plessner oder Gehlen, die den Menschen wieder konsequent als Naturwesen bestimmen.

[109] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S. 114. Im Anschluss an eine wenig faire Kelsen-Interpretation kann Voegelin an dieser Stelle dann bequem das Fazit ziehen: „Daß im Spiel dieser wechselnden Bedeutungen eine innersystematisch widerspruchsfreie Begründung der Methodenfragen von Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Soziologie und Normwissenschaft auch nur versucht würde, ist der Lage der Sache nach unmöglich. Wir müssen uns mit der Darstellung des instrumentalen Charakters der Wissenschaftseinteilung im Dienste der Metaphysik begnügen.“ (Voegelin, Autoritärer Staat, S. 114.)

[110] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, S.121.

[111] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 127.

[112] Zu Kelsens Kritik der speziell mit dem Souveränitätsbegriff zusammenhängenden Ablehnung des Völkerrechts vgl. Hans Kelsen: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Nachdruck der 2.Auflage von 1928, Aalen 1960, S. 196ff.

[113] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 121.

[114] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 122.

[115] Voegelin, Autoritärer Staat, S. 116.

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