Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Voegelins Leben und Werk
3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften
4 Voegelins Kritik der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“
5 Kelsens Voegelin-Kritik
6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht
7 Schluss
8 Bibliographie

6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht

Zu einer letzten Begegnung zwischen Kelsen und Voegelin kam es anlässlich eines Symposiums über „Naturrecht“, das 1962 in Salzburg abgehalten wurde, organisiert von Franz-Martin Schmölz, einem Schüler Voegelins.[181] Schmölz hatte neben anderen sowohl Kelsen als auch Voegelin eingeladen, wobei Kelsen den ersten Vortrag hielt, Voegelin den zweiten. Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Kelsens Vortrag besteht zum größten Teil aus einer historischen Untersuchung von Naturrechtslehren.[182] Seine zentrale These lautet, dass das Naturrecht ohne theologische Voraussetzungen nicht zu begründen ist. Wer die theologische Voraussetzung ablehnt, für den kann daher auch das Naturrecht nicht bindend sein. Kelsen beginnt bei Aristoteles, der nach seiner Interpretation noch keine eigentliche Naturrechtslehre entwickelt hat. Erst der Aristoteliker Thomas von Aquin wird - unter expliziten theologischen Voraussetzungen - eine Naturrechtslehre vertreten. Die Erörterung wird von Kelsen bis zu zeitgenössischen theologisch begründeten Naturrechtstheorien fortgeführt. In jedem Fall zeigt sich für ihn, dass die theologische Voraussetzung unerlässlich ist. Das aufklärerische Vernunftrecht, wie man es bei Kant findet, kann Kelsen durch eine theologische Lesart Kants mit seiner These vereinbaren.

Voegelin legt eine vollkommen gegensätzliche Interpretation vor.[183] Er lobt Kelsens Vortrag als eine sorgfältige dogmengeschichtliche Untersuchung, lässt aber wenig Zweifel daran, dass auf diese Weise das Wesentliche nicht erfasst wird. Das Wesentliche sind nach Voegelins Ansicht nicht die Dogmen, sondern die (seelischen) „Erfahrungen“ davon, was das „Rechte von Natur“ ist. Ganz im Gegensatz zu Kelsen findet er ein Naturrecht in diesem Sinne schon bei Aristoteles. Die Art von „Naturrecht“, die er aus Aristoteles' Nikomachischer Ethik heraus holt, gestaltet sich folgendermaßen: Ein ein für allemal feststehendes Naturrecht, das man in Form von Gesetzen fassen könnte, gibt es nicht. Was das Rechte von Natur ist, dafür sind im konkreten Fall die „repräsentativen Menschen“ maßgeblich. Ein solcher „repräsentativer Mensch“ oder spoudaios, wie Voegelin einen aristotelischen Ausdruck verwendend auch gerne sagt, gibt die richtige ethische Haltung vor, die die gewöhnlichen Menschen als verbindlich anzuerkennen verpflichtet sind. Es handelt sich um dieselbe Auffassung, die Voegelin auch an anderen Stellen vertreten hat.[184] Auf die naheliegende Frage, woran man einen „repräsentativen Menschen“ erkennt, und wie man ihn ggf. von einem Menschen unterscheidet, der nur behauptet, ein „repräsentativer Mensch“ zu sein, es aber nicht ist, findet sich in Voegelins Vortrag allerdings keine Antwort.

In der sich an die Vorträge anschließenden Diskussion bekräftigt Kelsen noch einmal im Gegensatz zu Voegelins Aristoteles-Interpretation, dass ein veränderliches Naturrecht kein Naturrecht ist.[185] Voegelin hält dagegen, dass es ihm auch gar nicht um so etwas wie absolute Werte gegangen sei. Gleichzeitig behauptet er aber, dass es objektive Kriterien gäbe, nach denen man entscheiden könne, ob Marx oder ob Aristoteles Recht hätte.[186] Allerdings wird Voegelin an dieser Stelle merklich undeutlich. Der Grund dafür dürfte darin liegen, dass diese vermeintlich „objektiven Kriterien“ bei Voegelin in letzter Instanz auf innere Erlebnisse zurückgeführt werden, die nur bewusstseinsphilosophisch zu erfassen sind, und die in einem rein argumentativen Diskurs gar nicht ohne weiteres vermittelt werden können. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Voegelin wenig später fordert, dass die „Basis für die Behandlung der philosophischen Problematik .. selbstverständlich immer die Meditationspraxis sein“ müsse.[187]

[181] Vgl. Franz-Martin Schmölz (Hrsg.): Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963, Vorwort.

[182] Hans Kelsen: Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Schmölz, a.a.O., S. 1-38.

[183] Eric Voegelin: Das Rechte von Natur, in Schmölz, a.a.O., S. 38-51.

[184] Vgl. Voegelin, Order and History. Volume Three, a.a.O., S. 299ff.

[185] Vgl. Schmölz, a.a.O., S. 128.

[186] Vgl. Schmölz, a.a.O., S. 129-132.

[187] Schmölz, a.a.O., S. 137.

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