Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Voegelins Leben und Werk
3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften
4 Voegelins Kritik der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“
5 Kelsens Voegelin-Kritik
6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht
7 Schluss
8 Bibliographie

5 Kelsens Voegelin-Kritik

War bisher die Rede davon, wie Kelsens Reine Rechtslehre von Eric Voegelin beurteilt wurde, so soll nun wenigstens kurz die andere Seite beleuchtet werden, nämlich wie Hans Kelsen Voegelins Philosophie einschätzte. Die Diskussion dreht sich dabei nicht mehr um die Reine Rechtslehre, sondern diesmal um Voegelins spätere politische Philosophie, wie er sie in der 1952 erschienen „Neuen Wissenschaft der Politik“ dargelegt hat. Zu diesem Werk hat Hans Kelsen eine ausführliche Kritik verfasst, die er jedoch unveröffentlicht ließ. Erst fünfzig Jahre später ist sie herausgegeben worden.[138]

Nicht zuletzt, weil Kelsens Kritik so lange unveröffentlicht blieb, ranken sich darum einige Legenden, auf die kurz eingegangen werden muss. Die erste dieser Legenden hat Voegelin selbst in die Welt gesetzt. Kelsen hatte Voegelin seine Kritik zugeschickt, wie er es üblicherweise tat, wenn er zu der Theorie eines zeitgenössischen Wissenschaftlers eine kritische Abhandlung verfasste.[139] In seiner Autobiographie nun behauptet Voegelin, dass er Kelsen zunächst brieflich und später noch deutlicher durch gemeinsame Bekannte gewarnt habe, dass Kelsens „Auffassung von den historischen und politischen Problemen, die mit der Thematik verknüpft sind, unzureichend“ wäre, und dass „eine Veröffentlichung eher Kelsens als seinen Ruf schädigen würde.“[140] Voegelin knüpft an diese Bemerkung die Vermutung, dass Kelsen aufgrund seiner Warnungen die Kritik unveröffentlicht gelassen habe. Diese Vermutung wird von Günther Winkler in seinem Geleitwort zur Neuauflage von Voegelins „Autoritärem Staat“ von 1997 dankbar aufgegriffen. Kelsen habe, so heißt es bei Winkler, seine Kritik möglicherweise deshalb unveröffentlicht gelassen, weil er eingesehen habe, dass er als Positivist bei geisteswissenschaftlichen Themen nicht mitreden könne.[141] Und Winkler fügt noch eine zweite Legende hinzu, die vermutlich auf eine Bemerkung Voegelins in einem Brief an Kelsen zurück geht, und die besagt, dass Hans Kelsen darüber verstimmt gewesen wäre, dass sein Schüler Voegelin sich von ihm, dem „Lehrer“, wissenschaftlich (wie auch politisch) emanzipiert hätte.[142]

Die erste dieser Legenden ist schon deshalb sehr fragwürdig, weil Kelsen ja auch nach Voegelins Hinweis auf seine vermeintliche Inkompetenz weiterhin eifrig zu geisteswissenschaftlichen Themen gearbeitet und veröffentlicht hat. Die Gründe für die Nichtveröffentlichung der Kritik sind nicht geklärt, könnten aber damit zusammenhängen, dass die Voegelin-Kritik Teil eines größeren Werkes mit dem Titel „Religion without God“ hätte werden sollen, das Kelsen schließlich unveröffentlicht ließ, weil er von der zentralen These des Werkes, dass Religion einen Götterglauben voraussetzt, nicht mehr überzeugt war.[143] Um eine unabhängige Veröffentlichung der Voegelin-Kritik hat er sich dann nicht mehr bemüht.

Was die zweite Legende betrifft, so gibt es nur einen einzigen Anhaltspunkt, der sie stützt. Dieser Anhaltspunkt ist ein, wenn man so will, etwas giftiger Brief, den Kelsen an William Rappard vom Institut Universitaire des Hautes Etudes in Genf geschrieben hat, nachdem Voegelin, den Kelsen zuvor noch wärmstens empfohlen hatte,[144] dort als Dozent abgelehnt worden worden war. Kelsen schreibt darin, dass ihn das „Urteil nicht allzusehr überrascht“ habe. Dann heißt es:

„Herr Dr. V. [Voegelin] hat in der letzten Zeit eine wissenschaftliche Richtung eingeschlagen, für die ich auch kein rechtes Verständnis mehr habe. Seine Gedankenführung verliert immer mehr an Klarheit und seine Phraseologie stellt an den aufmerksamen Leser und Hörer Anforderungen, die zu erfüllen, man nicht eigentlich mehr verpflichtet ist. Herr Dr. V. gerät leider immer mehr unter den Einfluss gewisser geistiger Strömungen, die in Deutschland ... stetig zunehmen, und in denen es Mode wird, an Stelle exakter Begriffsbestimmung und empirischer Untersuchung nur an Gefühlen orientierte, romantische Konstruktion zu setzen.“[145]

Günther Winkler vermutet, dass dieser Brief Ausdruck eines Einstellungswandels Kelsens gegenüber Voegelin ist und unmittelbar durch Voegelins Aufsatz über die Verfassungslehre Carl Schmitts hervorgerufen wurde.[146] Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass es der Einfluss des George-Kreises auf Voegelin war, der Kelsen zu der oben zitierten Bemerkung veranlasst hat. Voegelins Begeisterung für die Schriften des George-Kreises befand sich in den Jahren 1929/30 auf einem Höhepunkt und schlägt sich zu dieser Zeit sowohl in seinem Stil als auch in seinen Ansichten nieder.[147] Schon einige Monate zuvor hatten sich Leopold von Wiese und Marianne Weber anlässlich von Voegelins Rede über Max Weber ausgesprochen kritisch über diesen Zug von Voegelin geäußert.[148] Wenn Hans Kelsen in seinem Brief also auf die Auswüchse von Voegelins George-Begeisterung angespielt haben sollte, dann war er jedenfalls nicht der Einzige, der sie ungenießbar fand.

Was nun die inhaltliche Auseinandersetzung betrifft, so geht es um Folgendes: Voegelin hatte in der zunächst als Vorlesungsreihe gehaltenen „New Science of Politics“ (1952)[149] eine neue Theorie der Repräsentation entwickelt. (Der ursprüngliche Titel des Buches lautete daher auch „Truth and Representation“.[150] ) Umrahmt wird diese Theorie von einer scharfen Positivismuskritik und Voegelins bekannter Gnosistheorie, der zufolge der Totalitarismus durch das Überhandnehmen gnostischer politischer Bewegungen in der Neuzeit zu erklären sei. Die Positivismuskritik knüpft nahtlos an Voegelins Vorwürfe „positivistischer Geistzerstörung“ im „Autoritären Staat“ an, nur dass Voegelin diesmal von „destruktivem Positivismus“ redet und sich nicht mehr vornehmlich auf die Reine Rechtslehre bezieht.[151] Sein Angriff richtet sich besonders gegen die Forderung einer wertfreien Wissenschaft, wie sie Max Weber ausführlich begründet hat, und die auch von Hans Kelsen vertreten wird. Voegelin glaubt, dass es Alternativen zur wertfreien Wissenschaft gibt. Er verweist dazu auf die klassische politische Wissenschaft von Platon und Aristoteles, sowie auf das christliche Denken eines Thomas von Aquin.[152]

Die in der Neuen Wissenschaft der Politik ausgebreitete Repräsentationstheorie Voegelins hat mit der in der Politikwissenschaft üblichen Bedeutungen des Wortes „Repräsentation“ nicht viel gemein. Insbesondere geht es Voegelin dabei nicht um den Begriff der repräsentativen, d.h. demokratischen Regierung. Am ehesten handelt es sich noch um eine Theorie der Legitimation. Voegelin unterscheidet drei Arten von Repräsentation bzw. Legitimation: „Deskriptive Repräsentation“ (Legitimation durch Verfahren),[153] „Existentielle Repräsentation“ (Legitimation durch wirksame Herrschaftsausübung und machtpolitische Erfolge)[154] und „Wahrheitsrepräsentation“ (religiöse Legitimation).[155] Diese drei Arten von Repräsentation bzw. Legitimation sind nicht als einander ausschließende Alternativen zu verstehen, sondern sie bauen aufeinander auf. Was die profanen Typen dieser Hierarchie angeht, also die der „deskriptiven“ und der „existentiellen Repräsentation“, so knüpft Voegelin teilweise an seine autoritären Vorstellungen aus den 30er Jahren an. Die „deskriptive Repräsentation“ wird am Beispiel des demokratischen Wahlverfahrens deutlich abfällig beschrieben,[156] und hinsichtlich der existentiellen Repräsentation spricht Voegelin davon, dass ein Volk zu historischem Handeln bereit wird,[157] sobald es in der Lage ist, sich in einer historisch nachhaltigen Weise militärisch bemerkbar zu machen.[158] Neu ist daran nur, dass der Staat nicht mehr als zentrale Bezugskategorie auftaucht, sondern Völker oder Kulturräume (z.B. die westliche Welt) oder ganze Kulturepochen. Eine sehr viel wichtigere Neuerung gegenüber Voegelins früheren Schriften stellt dagegen die überaus starke Betonung der Bedeutung, ja Notwendigkeit religiöser Legitimation unter dem Titel der „Repräsentation von Wahrheit“ dar.[159] Sehr deutlich kommt dabei das normative Anliegen Voegelins zur Geltung: Nicht nur darauf, dass die politische Ordnung sich auf irgendwelche kollektiv verbindlichen Symbole als Ausdruck gemeinsamer religiöser Überzeugungen stützt, kommt es an, es muss auch die richtige religiöse Wahrheit sein, auf die sie sich stützt. Was die richtige religiöse Wahrheit ist, und wie man zu ihr gelangen kann, ist eine Frage die Voegelin dann bis zum Ende seines Lebens beschäftigt hat.[160]

Die Folge, die eintritt, wenn statt intakter religiöse Erfahrungen „deformierte“ Erfahrungen den Kern der repräsentierten Wahrheit bilden, ist der „Gnostizismus“. Gemeint ist damit eine umfassende religiös motivierte Weltverdammung in Kombination mit ausgeprägten Erlösungshoffnungen. Werden diese Erlösungshoffnungen zum Gegenstand einer politischen Programmatik, dann resultieren daraus sehr destruktive, im schlimmsten Fall totalitäre politische Bewegungen. Voegelins wichtigstes historisches Beispiel ist der Puritanismus.[161] In der jüngeren Zeit zählt Voegelin nun beinahe alle modernen politischen Bewegungen zur Gnosis, also nicht nur, was noch nachvollziehbar wäre, Faschismus und Kommunismus, sondern unter anderem auch diejenigen liberalen Kräfte im Amerika seiner Zeit, die sich seiner Ansicht nach dem Kommunismus nicht entschieden genug entgegen stellen.[162]

Wie antwortet Kelsen auf diesen Entwurf einer „Neuen Wissenschaft der Politik“? Zunächst einmal stellt Kelsen fest, dass es sich keineswegs um eine neue, sondern in Wirklichkeit um den Rückfall in eine sehr alte, nämlich religiöse Form der Politikbegründung handelt.[163] Voegelins Positivismuskritik hält er entgegen, dass sie ein Zerrbild des Positivismus entwirft (z.B. stützen sich nicht alle positivistischen Philosophien auf die Methoden der mathematischen Naturwissenschaften, wie Voegelin behauptet; der Rechtspositivismus Kelsens ist ein Gegenbeispiel).[164] Zudem ist die Alternative, die Voegelin skizziert, eine normative Ordnungswissenschaft, die zur Wertbegründung auf das platonische „Agathon“ oder die thomistische „ratio aeterna“ zurückgreift, kaum haltbar, da sowohl das platonische „Agathon“ als auch die „ratio aeterna“ Leerformeln sind, die man mit welchen Werten auch immer auffüllen kann.[165]

Ebenso kritisch äußert sich Kelsen zu Voegelins „Repräsentationstheorie“. Neben der unüblichen Verwendung des Ausdrucks „Repräsentation“ durch Voegelin merkt er kritisch an, dass Voegelins „existentielle Repräsentation“ ausgesprochen militante bzw. sogar militaristische Vorstellungen von Politik verkörpert.[166] Der Rückgriff auf in diesem Zusammenhang im Grunde abwegige antike Quellen wie die Geschichte der Langobarden von Paulus Diaconus, um den Begriff der existentiellen Repräsentation zu motivieren, erscheint Kelsen dabei als Ausdruck eines unnötigen wissenschaftlichen Imponiergehabes.[167] Besonders deutlich lehnt Kelsen, wie zu erwarten, Voegelins Ausführungen zur „Wahrheitsrepräsentation“ ab.[168] Der heikle Punkt ist, dass Voegelin so etwas wie eine objektive religiöse Wahrheit voraussetzt, eine wissenschaftlich natürlich unhaltbare Voraussetzung.

Sehr hart geht Kelsen auch mit Voegelins Gnosis-Theorie ins Gericht. Es gelingt ihm mühelos zahlreiche Irrtümer und Fehlinterpretationen der historischen Quellen bei Voegelin nachzuweisen.[169] Wenn Voegelin am Schluss seines Werkes den Gnosis-Vorwurf dann ebenso wahllos wie aggressiv gegen die Politiken von Roosevelt und Truman, gegen Rüstungskontrolle und kollektive Sicherheit richtet, dann ist das für Kelsen nicht anders als wenn „auf dem niedrigsten Niveau politischer Propaganda diejenigen, die mit der eigenen Meinung nicht übereinstimmen, als Kommunisten beschimpft werden.“[170]

Angesichts der Tatsache, dass Kelsens Antwort auf Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“ durch und durch eine Fundamentalkritik darstellt, könnte man geneigt sein, sie vor allem als den Ausdruck sehr gegensätzlicher philosophischer Haltungen, der agnostischen Überzeugung Kelsens einerseits und der zunehmend religiösen Einstellung Voegelins andererseits, aufzufassen. Aber damit würde man Kelsens Kritik nicht gerecht werden. Denn selbst wenn man die Frage der Existenz transzendenter Wahrheiten als eine nie endgültig zu beantwortende philosophische Menschheitsfrage wertet, so wird man doch erwarten dürfen, dass ein wissenschaftliches Werk, welches auf eine religiöse Glaubensgrundlage aufbaut, wenigstens in seinen profanen Teilen die üblichen Maßstäbe argumentativer Schlüssigkeit, sachlicher Genauigkeit und hermeneutischer Sorgfalt berücksichtigt. In dieser Hinsicht gelingt es Kelsens sehr detaillierter Kritik zahlreiche Schwächen von Voegelins „Neuer Wissenschaft der Politik“ herauszuarbeiten.[171] Und was die transzendenten Wahrheiten selbst betrifft, so ist, wenn der Begriff des transzendenten Seins schon in die Wissenschaft eingeführt wird, die Frage keineswegs mehr vorlaut, ob die Existenz einer solchen transzendenten Seinsphäre auch bewiesen werden kann.

Eine Antwort Voegelins auf Kelsens ausführliche Kritik ist leider nicht erhalten. Die letzte Aussprache zwischen Kelsen und Voegelin über diese Kritik fand nur mündlich statt.[172] Dennoch ist der kurze Briefwechsel, der sich zuvor zwischen Kelsen und Voegelin entsponnen hat, wissenschaftlich aufschlussreich, denn er enthält eine Kritik Voegelins an Kelsens Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“, die ein Schlaglicht auf die unterschiedlichen Denkweisen beider wirft. Nirgendwo sonst tritt der Gegensatz zwischen Kelsens und Voegelins wissenschaftlicher Herangehensweise derart zugespitzt auf. Es lohnt sich daher kurz darauf einzugehen.

In seiner Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“[173] untersucht Hans Kelsen die klassischen Gerechtigkeitstheorien der abendländischen Philosophie und kommt zu dem Ergebnis, dass es keiner einzigen gelingt, die Richtigkeit der vertretenen Gerechtigkeitsvorstellung zu begründen. Eingeleitet wird die Schrift von einer kurzen Beschreibung des Gesprächs zwischen Jesus und Pontius Pilatus, in dessen Verlauf Pontius Pilatus die berühmte Frage stellt: „Was ist Wahrheit?“ Nach Kelsens Interpretation geht es in dem Gespräch um Gerechtigkeit.[174] Voegelin setzt ihm dagegen in seinem Brief unter Heranziehung theologischer Kommentare aufwendig auseinander, dass es in dem Gespräch nicht um Gerechtigkeit sondern um „Wahrheit“ geht.[175] Hat Voegelin Kelsen, wie er es in einer höflich umwundenen Form durchblicken lässt, bereits auf der ersten Seite bei einem groben Schnitzer ertappt? Dazu ist zu sagen, dass Voegelin unter theologischen Gesichtspunkten sicherlich Recht hat, es geht um „Wahrheit“. Nur ist es für diese Art religiöser „Wahrheit“ charakteristisch, dass sie eine umfassende „Wahrheit“ ist, die unter anderem auch eine Moral- und Gerechtigkeitskomponente umfasst. Da es Kelsen aber gerade auf das Problem der Begründung von Gerechtigkeit ankommt, ist es legitim, wenn er diesen Aspekt aussondert und die Begegnung zwischen Jesus und Pilatus so deutet, dass es dabei um die „wahre“ Gerechtigkeit geht.[176]

Der Gegensatz, der sich hier zwischen Voegelin und Kelsen auftut, ist der zwischen zwei unterschiedlichen, aber gleichermaßen legitimen Herangehensweisen. Kelsens Herangehensweise ist analytisch, indem er untersucht inwieweit ein bestimmter historischer Standpunkt Antwort auf eine bestimmte Frage, in diesem Fall die Frage nach der Gerechtigkeit, geben kann. Dafür ist es unerlässlich, diesen Standpunkt im Hinblick auf die zu untersuchende Sachfrage zu interpretieren. Voegelin geht dagegen von einer hermeneutischen Methode aus, bei der es darauf ankommt, einen Standpunkt so zu verstehen, wie er gemeint ist, einschließlich, wie man vielleicht sogar fordern müsste, der ganzen Verworrenheit, mit der er gemeint ist.[177] Nun glaubt Voegelin aber, dass man gerade mit dieser hermeneutischen Herangehensweise auch eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit geben kann, soweit sich überhaupt eine Antwort geben lässt. Voegelin meint nämlich, dass die großen Philosophen, deren Unfähigkeit Gerechtigkeit zu begründen Kelsen in seiner Abhandlung nachweist, in Wirklichkeit niemals einen solchen Versuch unternommen haben. Vielmehr ist Gerechtigkeit das Ergebnis einer Art von Seelenforschung, die Voegelin folgendermaßen beschreibt: „Das Instrument des Findens ist die Seele des Finders. ... Die Seelen sind, wenn sie historisch manifest werden, die Seelen der großen Propheten, Nomotheten, Philosophen und Heiligen. Und der Grund, warum man ihnen folgen soll ist nicht in einer Norm zu finden, ... sondern im respondieren der verwandten Seelen.“[178] Aber hier liegt ein Trugschluss vor. Selbst wenn Voegelin recht damit hätte, dass dies die Art und Weise ist, wie Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen, so bleibt immer noch offen, warum man sie als autoritativ gültig betrachten sollte. Eine Frage, die man allein mit hermeneutischen Methoden nicht beantworten kann, sondern nur argumentativ. (Und der Hinweis auf das „respondieren der verwandten Seelen“ ist sicherlich kein besonders stichhaltiges Argument.) Abgesehen davon bleibt der konkrete Inhalt der Gerechtigkeitsvorstellung bei Voegelins Bemerkung einigermaßen leer, ganz wie Kelsen dies Voegelin in seiner Kritik der „Neuen Wissenschaft der Politik“ schon vorgeworfen hat.[179] Faktisch ist Voegelins Ethik daher genauso relativistisch wie die von Kelsen, nur dass Voegelin dies nicht zugibt und sich in dieser Lage für ein autoritätsgestütztes Modell der Moralbegründung entscheidet, während Kelsen sich für die Werte der Aufklärung und liberale Gerechtigkeitsideale entschieden hat.[180]

[138] Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen's Reply to Eric Voegelin's „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004.

[139] Vgl. Métall, Hans Kelsen, S. 68.

[140] Voegelin, Autobiographical Reflections, S. 81.

[141] Vgl. Winkler, Geleitwort, S. XXVI. - Vgl. auch Erika Weinzierl: Historical Commentary on the Period (translated from German by Fred Lawrence), in: The collected Works of Eric Voegelin. Volume 4. The Authoritarian State. An essay on the Problem of the Austrian State. (Translated by Ruth Hein, edited by Gilbert Weiss), Columbia and London 1999, S. 10-38 (S. 30).

[142] Vgl. ebd., S. XXVII-XXIX, S XXXI-XXXII. - Vgl. den Brief Voegelins and Hans Kelsen vom 10. Februar 1954.

[143] Vgl. Métall, S. 91.

[144] Vgl. den Brief von Hans Kelsen and William Rappard, Wien, 10. Mai 1930, Archiv der Universität Wien.

[145] Brief von Hans Kelsen an William Rappard, Köln, 16. Dezember 1930, Archiv der Universität Wien.

[146] Vgl. Winkler, Eric Voegelin und Hans Kelsen. , a.a.O., S. 17. - Vgl. Winkler, Geleitwort, S. XIII, S. XXVII-XXVIII. - Vgl. Eric Voegelin, Die Verfassungslehre von Carl Schmitt, a.a.O.

[147] Vgl. Thomas Hollweck: Der Dichter als Führer, S. 32. - Vgl. Eric Voegelin: Max Weber, Rede vor der Wiener Soziologischen Gesellschaft vom 14. Juni 1930, in: Eric Voegelin: Die Größe Max Webers (hrsg. von Peter J. Opitz, München 1995, S. 29-47. Dort schreibt Eric Voegelin auf Seite 32 wörtlich: „Im Tiefpunkt der Zerrüttung, der auch die Sprache verfallen war, beginnt die allmähliche Neugewinnung des Bildungsgutes in Philosophie und Geschichte und ersteht der Schöpfer der Sprache in Stefan George. Das Wunder der wiederholten Erneuerung wird viel beredet, und die Besten glauben an die ewige Jugend unseres Volkes als sein auszeichnendes Glück vor den anderen Völkern. Nötig ist die Gabe gewiß, und heute mehr als je zuvor.“

[148] Vgl. den Brief von Leopold von Wiese an Eric Voegelin vom 21. Juni 1930, in: Eric Voegelin: Die Größe Max Webers, a.a.O., S. 48-50. Dort schreibt Leopold von Wiese: „Aber in einem Punkte glaube ich pedantisch sein zu müssen, weil ich in ihrer Duldung eine große allgemeine Gefahr sehe. Das ist die romantische Klage über die angeblich zersetzenden und auflösenden Wirkungen des Verstandes. Gerade Max Weber hätte, wie sie ja zwischen den Zeilen andeuten, Ihnen ganz gehörig widersprochen. Wenn diese Anschuldigung des Verstandes und die Verherrlichung des bloßen Glaubens eine Einzelerscheinung wäre, würde ich keineswegs widersprechen. Aber das große Unglück unser Geisteskultur in Deutschland hängt ja mit diesem von 90% aller jüngeren Leute vorgetragenen Jammern über den Verstand zusammen. Was heute von Leuten, deren Beruf und Aufgabe es ist, der Wissenschaft zu dienen, gesündigt wird in Anklagen über den Wissenschaftsgeist und in unbewußter Verherrlichung der Unwissenschaftlichkeit, das schreit zum Himmel. Und ich kann für meine Person nicht die Hand reichen, um diese Untergrabungen des Denkens zu kultivieren.“ (S. 49). - In ganz ähnlichem Sinne schreibt Marianne Weber an Eric Voegelin: „Ich finde zwar manche Ihrer Deutungen, die, wie mir scheint, stark von Wolters Buch beeinflußt sind, dessen Deutungen M.W.s sehr verzerrt sind und mir sehr auf die Nerven fallen, schief. Offenbar stehen Sie z.Z. stark unter dem Einfluß von St. George und sind von dorther, d.h. von dessen Wertungen u. `Gestalt' her orientiert? Bei M.W. von `Glaubenslosigkeit' oder Lähmung des Handelns durch den Verstand zu sprechen, geht m.E.'s wirklich nicht, ...“ (Brief an Eric Voegelin vom 3. Juli 1930, ebd., S. 57-58. Hervorhebungen in Original).)

[149] Eric Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, Chicago 1987 (1952).

[150] Vgl. das Vorwort von Dante Germino zur Neuausgabe der „New Science of Politics“, in: Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. v-ix (S. v).

[151] Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 3ff.

[152] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 13ff.

[153] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 31ff.

[154] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 36ff.

[155] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 52ff.

[156] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 32. Dennoch hatte sich Voegelin in Amerika inzwischen mit der Demokratie angefreundet, auch wenn er sie sich ein wenig zurecht interpretierte. Vgl. Voegelin, Anamnesis, a.a.O., S. 351ff.

[157] Voegelin bezeichnet ein solches Volk oder Herrschaftsgebilde dann in seiner eigenwilligen Terminologie als „articulate for action“ (Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 47) oder als „in form for action in history“ (S. 36).

[158] Vgl. Voegelin, New Science of Politics, a.a.O., S. 36ff.

[159] Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 52ff.

[160] Vgl. z.B. Voegelin, Anamnesis, a.a.O., S. 283ff.

[161] Vgl. Voegelin, The New Science of Politics, a.a.O., S. 133ff. Das Beispiel verdeutlicht die Willkür von Voegelin geistesgeschichtlichen Beurteilungen, denn gerade die von Voegelin so geschätzte politische Ordnung der Vereinigten Staaten von Amerika kann man ja in gewisser Weise zu den kulturellen Leistungen des Puritanismus zählen.

[162] Vgl. Voegelin, New Science of Politics, S. 162ff.

[163] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 12.

[164] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 13.

[165] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 15/16, S. 21/22.

[166] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, S. 64.

[167] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 50/51.

[168] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 53ff.

[169] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 76ff.

[170] Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 107. [Übersetzung von mir, E.A.] In der Tat scheint Voegelin die geistige Atmosphäre der McCarthy Ära geschätzt zu haben. Vgl. dazu Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt, München 1996 (1959), S. 33/34.

[171] Vgl. Eckhart Arnold: Voegelins „Neue Wissenschaft“ im Lichte von Kelsens Kritik, Nachwort zu: Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen's Reply to Eric Voegelin's „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004, S. 111/112, S. 118ff.

[172] Das Treffen fand am 23. August 1954 in Cambridge, Massachussetts statt, wie aus Voegelins knapper brieflicher Mitteilung an Alfred Schütz vom 24. August 1954 hervor geht. Der Brief ist abgedruckt in: Alfred Schütz / Eric Voegelin: Eine Freundschaft, die ein Leben gehalten hat. Briefwechsel 1938-1959, S. 504. - Winkler schreibt in seinem Geleitwort, dass Kelsen, „offensichtlich schwer getroffen“ von Voegelins Kritik an seiner Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“, die Kontakte beendet hätte. (Vgl. Winkler, Geleitwort, S. XXV.) Es bleibt unklar, woraus Winkler schließt, dass Kelsen die Kontakte beendet hätte. Dagegen spricht gerade, dass Voegelin und Kelsen sich am 23. August noch einmal getroffen haben. Zudem stammt der letzte Brief des Briefwechsels von Kelsen. Der Brief ist auf den 27. Juli 1954 datiert und lag offenbar dem Manuskript von Kelsens ausführlicher Kritik an Voegelins „New Science of Politics“ bei.

[173] Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, 2. Auflage, Wien 1975.

[174] Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, a.a.O., S. 1.

[175] Brief von Eric Voegelin an Hans Kelsen, Baton Rouge, 7. März 1954, Eric-Voegelin-Archiv München.

[176] Diese Intention Kelsens wird von Winkler nicht genügend berücksichtigt, wenn er schreibt, Voegelin habe Kelsen eine fehlerhafte Deutung der historischen Quellen nachgewiesen. Vgl. Günther Winkler: Die Reine Rechtslehre als Dekonstruktionismus? Geistesgeschichtliche Notizen zu einer grundlegenden Kontroverse zwischen Kelsen und Voegelin, in: Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag (Hrsg. von Joachim Burmeister), München 1997, S. 122.

[177] Einschränkend muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Voegelin sich bei der Interpretation geistesgeschichtlicher Quellen gerade über die Autorintentionen häufig in einer kaum vertretbaren Weise hinwegsetzt. Vgl. dazu Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 95/96.

[178] Brief von Eric Voegelin an Hans Kelsen, Baton Rouge, 7. März 1954, Eric-Voegelin-Archiv München.

[179] Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 63.

[180] Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 40-43.

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