Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Voegelins Leben und Werk
3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften
4 Voegelins Kritik der Reinen Rechtslehre im „Autoritären Staat“
5 Kelsens Voegelin-Kritik
6 Eine letzte Begegnung: Kelsen, Voegelin und das Naturrecht
7 Schluss
8 Bibliographie

3 Die Reine Rechtslehre in Voegelins frühen Schriften

Mit der Reinen Rechtslehre, die er intensiv studiert hat, setzt sich Voegelin bis zu seiner Emigration 1938 in vielen seiner Schriften auseinander. Von Anfang an wahrt er dabei Distanz zur „Schule“. In den frühen Schriften (bis 1935) ist seine Haltung zur Reinen Rechtslehre dabei stets eine sympathisch-kritische. Die Reine Rechtslehre bildet für Voegelin immer wieder den Ausgangs- und Bezugspunkt in der Diskussion um eine allgemeine Staatslehre, die aber - das war Voegelins Anspruch - weit über eine bloße Rechtslehre hinausgehen müsste. Dabei ist ihm natürlich die von Kelsen postulierte Identität von Staat und Recht von Anfang an ein Dorn im Auge. Aber erst im „Autoritären Staat“ (1936) formuliert Voegelin eine umfassende Kritik der Reinen Rechtslehre. Mit dieser Fundamentalkritik schließt Voegelin seine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Reinen Rechtslehre ab.

Die erste und bis zur Veröffentlichung des „Autoritären Staates“ zugleich ausführlichste Auseinandersetzung mit der Reinen Rechtslehre liefert Voegelin in seinem Aufsatz Reine Rechtslehre und Staatslehre (1924)[32] . Bereits in dieser frühen Veröffentlichung liegt der Standpunkt Voegelins zur Reinen Rechtslehre in allen wesentlichen Zügen fest.[33] Voegelin setzt sich darin mit den philosophischen Begründungsproblemen der Reinen Rechtslehre auseinander. Vor allem dient ihm dieser Aufsatz aber zur Bestimmung des Verhältnisses von Rechts- und Staatslehre. Für die Reine Rechtslehre legt er dabei vor allem Kelsens „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“[34] unter Einbeziehung der jüngeren Diskussion Anfang der 20er Jahre zu Grunde.

Das zentrale Begründungsproblem der Reinen Rechtslehre stellt nach Voegelin das Problem der Rechtsdefinition dar, worunter er die Frage versteht, wodurch sich der positive „Gesetzesinhalt als Recht qualifiziert“.[35] Nach Voegelin ist es nun nicht möglich das Recht von anderen Normensystemen (wie der Moral) allein durch eine immanente Untersuchung der Normen und ihrer Beziehungen untereinander zu unterscheiden. Ohne das Kriterium der Zwangsbewehrtheit, das in Kelsens „Hauptproblemen der Staatsrechtslehre“ noch nicht zur Rechtsdefinition herangezogen wird[36] und zudem, wie Voegelin anmerkt, nicht in allen Rechtsgebieten gleichermaßen plausibel erscheint, bietet die Reine Rechtslehre nach Voegelins Darstellung als einzige Lösung an, diejenigen Normen als Recht zu qualifizieren, die von einem Staatsorgan oder auf Grund der Ermächtigung durch ein Staatsorgan erlassen worden sind. Dadurch verstrickt sich die Reine Rechtslehre jedoch in einen Zirkelschluss, weil nach der Reinen Rechtslehre ja nur der Inhalt der Rechtsordnung über die Organqualität entscheiden kann.[37] Auch nach der ausführlichen Diskussion der Beiträge von Sander, Schreier und Kaufmann, bleibt Voegelin bei der Schlussfolgerung, dass das Problem der Rechtsdefinition innerhalb der Rechtslehre nicht gelöst werden kann. Dazu bedarf die Rechtslehre vielmehr der Einbettung in eine von der Rechtslehre unabhängige empirische Staatslehre.

Um nun die Möglichkeit einer solchen Staatslehre auszuloten, nachdem Kelsens Reine Rechtslehre die schon in den Staatsrechtslehren Georg Jellineks, Paul Labands und Carl Friedrich Gerbers angelegte Entwicklung der Reduktion der Staatslehre auf die Normlogik zu ihrem logischen Abschluss gebracht hat, greift Voegelin schließlich auf die sehr viel älteren historischen Staatstheorien von Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Waitz zurück. Diese etwas komplizierte und historisch recht weit ausholende Operation[38] ist wahrscheinlich dadurch bedingt, dass Voegelin Kelsens Polemik gegen bestimmte „soziologische“ Staatsbegriffe, insofern sie zeitgenössische Theorien betrifft, durchaus zustimmt.[39] Bei Dahlmann und Waitz findet Voegelin einen Staatsbegriff, der sich vorwiegend auf Symbole (das Symbol des Königs, des Volkes etc.) stützt, und dadurch nach Voegelins Einschätzung weniger angreifbar für Kelsens Argumente gegen soziologische Staatsbegriffe ist.

Als Gesamtergebnis deutet sich so in Voegelins Aufsatz ein eigenes staatswissenschaftliches Forschungsprogramm an: Da die Reine Rechtslehre das Problem der Rechtsdefinition nicht lösen kann, muss sie eingebettet werden in eine übergreifende Staatslehre, die im wesentlichen eine Theorie der zentralen politischen Symbole ist.

Ohne wesentliche Änderungen taucht dieselbe Deutung der Reinen Rechtslehre mit Bezug auf die gleichen Autoren wie in seinem früheren Aufsatz auch in dem Beitrag Zur Lehre von den Staatsformen[40] (1927) auf. Sie wird dort jedoch nur auf wenigen Seiten berührt.[41] In erster Linie setzt sich Voegelin hier mit der „Staatslehre“ Jellineks auseinander.

In dem Aufsatz Kelsen's Pure Theory of Law[42] (1927) erläutert Voegelin die Reine Rechtslehre in der Form, die Kelsen ihr in seiner „Allgemeinen Staatslehre“ von 1925 gegeben hat, für ein amerikanisches Publikum. Da Voegelin bei seinen amerikanischen Lesern keinerlei Kenntnis der Materie voraussetzt, hat seine Darstellung eher mitteilenden und beschreibenden als kommentierenden Charakter. Voegelin erläutert darin in knapper Form die für die Reine Rechtslehre grundlegende Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, den Rechtssatz, die Parallelität von Kausalität und Zurechnung, sowie die Frage der Verfassungskontinuität und des Verfassungswandels.[43] Bemerkenswert ist Voegelins abschließendes Urteil: Die Reine Rechtslehre bedeutet für ihn nicht nur einen wichtigen Fortschritt der juristischen Technik, sondern auch eine Entwicklung von der halb-absolutistischen Philosophie des deutschen Reiches hin zum Geist der neuen Demokratie.[44]

In Die Souveränitätstheorie Dickinsons und die Reine Rechtslehre[45] (1929) vergleicht Voegelin die Reine Rechtslehre mit der geistig verwandten aber weniger philosophisch konzipierten Souveränitätstheorie Dickinsons. Im Unterschied zur Reinen Rechtslehre liegt bei Dickinson der Akzent nicht auf den Normen sondern auf den Institutionen. Beiden Theorien gemeinsam ist jedoch der juristische Blickwinkel. Daraus ergeben sich trotz der unterschiedlichen philosophischen Fundierung erstaunlich weitreichende Übereinstimmungen. Offenbar, so folgert Voegelin, motiviert die juristische Sichtweise eine ganz bestimmte und daher übereinstimmende Auffassung des Gegenstandes.

So gehen beide Theorien von der Einheit einer hierarchisch strukturierten Rechtsordnung aus, nur dass sich für die Reine Rechtslehre die Einheit aus einem philosophischen Prinzip, der Einheit der Erkenntniskonstitution ergibt, während sie bei Dickinson eher pragmatisch begründet wird. An die Stelle der Grundnorm tritt bei Dickinson entsprechend seines institutionalistischen Ansatzes die Souveränität, verstanden als die oberste Recht setztende Instanz. Geradezu frappierend erscheint nach Voegelins Darstellung die Übereinstimmung beider Theorien hinsichtlich der doppelten Abgrenzung der rein rechtlich normativen Betrachtungsweise gegen das Verfahren kausalwissenschaftlicher Untersuchung einerseits und gegen ethische oder politische Bewertungen andererseits.[46] Beide grenzen das positive Recht strikt von Gerechtigkeit im ethischen Sinne ab, und so wie Kelsen Recht und Staat miteinander identifiziert, warnt auch Dickinson vor Hypostasierungen des Staates, bei denen dem Staat und seinen Institutionen ein eigenes Wesen unterstellt wird jenseits und über die Rechtsordnung hinaus.[47]

Deutliche Unterschiede beider Ansätze werden erst auf dem Gebiet des Völkerrechts sichtbar. Voegelin zufolge tendieren Kelsen und die Reine Rechtslehre dazu, aus logischen und systematischen Gründen die Existenz einer völkerrechtlichen Ordnung zu unterstellen, obwohl ihr faktisch nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit zukommt. Umgekehrt ist Dickinson für Voegelin dazu genötigt, die in Form eines wirksamen Völkergewohnheitsrechts tatsächlich vorhandenen Elemente des Völkerrechts zu bagatellisieren, da es oberhalb der souveränen Staaten keine Institution mehr gibt, die Völkerrecht setzen und Verstöße ahnden könnte.[48] Insgesamt ist Voegelins Vergleich zwischen Dickinsons Souveränitätstheorie und der Reinen Rechtslehre überaus erhellend, da er - wie Voegelin eingangs auch andeutet - zeigt, dass das rechtspositivistische Paradigma als solches nicht zwingend an eine bestimmte Philosophie (Neukantianismus) gebunden ist oder von einer spezifischen Wissenschaftstradition (z.B. der deutschen Staatsrechtslehre) abhängt. Allerdings zieht Voegelin diese mögliche Schlussfolgerung selbst nicht in voller Schärfe.

Als Fortführung der Gedankengänge seines früheren Aufsatzes über „Reine Rechtslehre und Staatslehre“ kann in vielerlei Hinsicht Voegelins Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat[49] (1930) verstanden werden. Ebenso wie in seinem früheren Aufsatz geht Voegelin von einer internen Kritik der Reinen Rechtslehre über zu Fragen einer allgemeinen Staatswissenschaft. Zum weit überwiegenden Teil ist der Aufsatz jedoch der Kritik der Reinen Rechtslehre, insbesondere dem Problem der Einheit der Rechtsordnung und dem Gültigkeitsbegriff gewidmet gewidmet. Den Ausgangspunkt bildet zunächst eine knappe Darstellung der Rechtstheorie Bierlings,[50] einer Vorläufertheorie der Reinen Rechtslehre, die Voegelin nutzt, um die beiden Problematiken der Einheit und der Gültigkeit der Rechtsordnung zu entwickeln.[51] Die Einheit der Rechtsordnung wird bei Bierling wie später in der Reinen Rechtslehre durch den Delegationszusammenhang hergestellt. Nach Voegelin liefert die Reine Rechtslehre (ebenso wie Bierling) jedoch nur ein sehr vereinfachtes Bild der Beziehung zwischen den Rechtsakten bzw. zwischen Normen und Rechtsakten, weil „in der Regel eine Beziehung zwischen zwei materiell-rechtlichen Akten herausgegriffen und als das allgemeingültige Muster der Beziehung zwischen Rechtsakten überhaupt hingestellt wird.“[52] Zudem ist durch das allzu simple Bild eines hierarchischen Stufenbaus der in Wirklichkeit sehr viel kompliziertere Delegationszusammenhang gar nicht angemessen zu erfassen. Die Gültigkeit eines Rechtsaktes hängt nicht in jedem Fall nur von einer Ermächtigungsnorm höherer Stufe ab, also etwa die Gültigkeit eines Gesetzes von der Ermächtigung des Parlaments zur Gesetzgebung durch die Verfassung, sondern unter Umständen von einem komplizierten Verfahren, dass in seinen Einzelheiten durch Vorschriften geregelt ist, die in der Normenhierarchie gar nicht unbedingt oberhalb der durch den Rechtsakt gesetzten Norm angesiedelt sind.[53] Anhand verschiedener Beispiele zeigt Voegelin, dass die Terminologie der Reinen Rechtslehre zu undifferenziert ist, um solche und andere Feinheiten wiederzugeben. Er folgt damit einer Linie von Kritik, wie sie gerne aus rechtsempirischer Sicht an der Reinen Rechtslehre geübt wird, und die Anstoß an der dezidierten kategorialen Sparsamkeit der Reinen Rechtslehre nimmt.[54]

Um ein differenzierteres Bild der Rechtsordnung zu liefern, unterscheidet Voegelin drei Bedeutungsebenen, eine Ebene des „formale[n] Aktzusammenhangs“, eine Ebene der „sachlichen Sinngehalte“ und eine Ebene des „normative[n] Sinn[s]“.[55] Auf der formalen Ebene werden die Rechtsnormen als „Deutungsschemata“ charakterisiert, durch die bestimmte Handlungen bzw. „Akte“ einen rechtlichen Sinn erhalten. Die „Deutungsschemata“ wiederum werden in „Aktreihen“ erzeugt bzw. angewendet. Voegelin motiviert seine Terminologie mit der Absicht, alle „axiologischen“, d.h. moralische Wertentscheidungen ausdrückenden Konnotationen zu vermeiden, die seiner Ansicht nach bei der Verwendung von Begriffen wie „Rechtserzeugung“, „Rechtsanwendung“ etc. unvermeidlich miteinfließen.[56] Damit streicht Voegelin aber auf der „formalen Ebene“ auch jeden präskriptiven Gehalt des Rechts. Insofern verwundert es nicht, wenn er dann feststellt, dass sich das Problem der (normativen) Geltung auf dieser Ebene nicht behandeln lässt.[57] Aber auch auf der nächst höheren Schicht, der des „inhaltlichen“ bzw. „sachlichen Sinns“, lässt es sich nach Voegelin nicht lösen, da diese Ebene, die von Voegelin nur sehr knapp skizziert wird, lediglich die Bedingungsbeziehungen der Akte untereinander beschreibt, also etwa dass die Lesung eines Gesetzesentwurfes im Parlament die Antragstellung voraussetzt.[58] Erst auf der normativen Ebene lässt sich die Geltungsfrage sinnvoll behandeln. Allerdings zeigt sich für Voegelin, dass sich auf dieser Ebene die Rechtsordnung hinsichtlich der Geltungsfrage nicht mehr als abgeschlossener Zusammenhang rekonstruieren lässt. Als wesentlichen Grund liefert er eine Kritik des Kriteriums der Zwangsbewehrtheit. Nach Voegelin kann das Kriterium der Zwangsbewehrtheit keine Eigenschaft aller Rechtsnormen sein, da diejenigen Normen, die das Vorgehen der zwangverhängenden Instanzen regeln aus systematischen Gründen nicht in demselben Maße zwangsbewehrt sein können, wie die Normen, die das Verhalten der Bürger regeln sollen. Zumindest gilt dies für die höchsten Instanzen im Zwangssystem, deren eventuelles Fehlverhalten von keiner anderen Instanz mehr sanktioniert werden kann.[59] Die Möglichkeit, auf der normativen Ebene die Einheit der Rechtsordnung und, ausgehend von der Grundnorm, damit auch ihre Geltung durch den Delegationszusammenhang herzustellen, scheint Voegelin nicht zu sehen, wohl weil er den Delegationszusammenhang schon auf der „formalen“ Ebene verbucht hat. So kommt Voegelin vielmehr sogar zu dem Ergebnis, dass die von ihm unterschiedenen Bedeutungsebenen teilweise disparat sind und sich allenthalben „Sinnlücken“ auftun.[60] Anders als in seinen früheren Aufsätzen zweifelt Voegelin damit erstmals auch die innere Folgerichtigkeit der Reinen Rechtslehre an. Hier könnte man natürlich die Frage stellen, ob die „Sinnlücken“ nicht eher ein Artefakt von Voegelins nicht in jeder Hinsicht glücklicher Differenzierung der Rechtsordnung in unterschiedliche Bedeutungsebenen sind, als dass sie auf Schwächen in der Architektur der Reinen Rechtslehre verweisen.

Voegelins beschließt seinen Aufsatz über „Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat“ mit einer kurzen, an Max Webers Begriffen orientierten soziologischen Betrachtung der Normativität der Rechtsordnung und der Legitimität der Herrschaftsordnung.

In seinem Aufsatz Die Verfassungslehre von Carl Schmitt. Versuch einer konstruktiven Analyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien[61] (1931) geht Voegelin beiläufig auch auf die Reine Rechtslehre ein. Voegelin verteidigt dabei die Reine Rechtslehre gegen verschiedene Missverständnisse von Carl Schmitt und wirft ihm insgesamt vor, seine Ablehnung der Reinen Rechtslehre „in die Form der Ablehnung einer inhaltlich-normativen Rechtslehre“[62] zu kleiden. Zu dieser Zeit vertritt Voegelin noch die Ansicht, dass die Reine Rechtslehre nicht auf dieser Ebene, sondern höchstens an ihren ungeklärten Voraussetzungen scheitert. Er stimmt Carl Schmitt denn auch darin zu, dass die Geltung des Verfassungsrechts auf vorrechtlichen Voraussetzungen beruht. Aus diesem Grund lässt sich auch das Prinzip der Methodenreinheit nach Voegelins Ansicht auf dem Gebiet der Staatslehre nicht aufrecht erhalten. Hatte Voegelin in seinem früheren Aufsatz „Reine Rechtslehre und Staatslehre“ der reinen Staatsrechtslehre ein empirisches, historisch-politisches Staatsverständnis entgegengehalten, so fasst er die Kritik am Prinzip der Methodenreinheit nun auch in Form eines philosophischen Arguments. Die Methodenreinheit kann nicht aufrecht erhalten werden, da der Gegenstand der Staatslehre (wie auch anderer Geisteswissenschaften) „unabhängig vom Erkenntniszusammenhang der Wissenschaft Züge der Eigenkonstitution aufweist.“[63] Bei diesem Argument Voegelins wird jedoch nicht deutlich, weshalb gerade die „Eigenkonstitution“ des Gegenstandes eine methodenreine wissenschaftliche Untersuchung unmöglich macht. Das Argument erscheint umso weniger überzeugend als die Reine Rechtslehre den Aspekt der „Eigenkonstitution“ ihres Gegenstandes in einem gewissen Sinne, nämlich dem der dynamischen Erzeugung des Rechts durch Recht setzende Organe, sogar ausdrücklich zum Thema macht. Neben dieser Kritik hebt Voegelin aber auch eine Reihe von Verdiensten der Reinen Rechtslehre hervor, wie die „genaue Durcharbeitung der normativen Sphäre und ihre Loslösung von anderen Problemkreisen“, die „Kritik an den politischen Elementen in der herrschenden Staatslehre“ und „die ganz außerordentliche Hebung des Niveaus in der Rechtstheorie“.[64] Angesichts dieser immer noch recht positiven Bewertung der Reinen Rechtslehre in Voegelins Aufsatz über Carl Schmitts Verfassungslehre ist es nicht ganz verständlich, wenn Günther Winkler in diesem Aufsatz den Anlass zu einem Gesinnungswandel Kelsens gegenüber Voegelin vermutet.[65] Dass die ebenfalls recht positive Beurteilung von dessen Antipoden Schmitt durch Voegelin[66] dafür hinreichend gewesen sein könnte, erscheint wenig plausibel.

Ebenfalls nur beiläufig geht Voegelin in seinem Buch Rasse und Staat[67] (1933) auf die Reine Rechtslehre ein. Sein Standpunkt ist nach wie vor derselbe: Der Reinen Rechtslehre werden große Verdienste auf dem Gebiet der Rechtsinterpretation bescheinigt und zumindest auf diesem engeren Gebiet hält Voegelin die saubere Abgrenzung von der kausalwissenschaftlichen Untersuchungsebene einerseits und von ethischen und politischen Bewertungen andererseits für bewahrenswerte Leistungen. In der Staatslehre kann der Ansatz der Reinen Rechtslehre aber höchstens der erste Schritt zu einer umfassenden Staatslehre sein, die besonders eine „Staatsideenlehre“ beinhalten und sich auf eine philosophische Anthropologie stützen müsste, um beispielsweise die in der Reinen Rechtslehre dogmatisch vorausgesetzte „Rechtssphäre“ auf „ihre Wurzeln im Wesen des Menschen“[68] zurückzuführen.

[32] Eric Voegelin: Reine Rechtslehre und Staatslehre, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, IV, Wien 1925, S. 80-131.

[33] Vgl. Dietmar Herz: Das Ideal einer objektiven Wissenschaft von Recht und Staat. Zur Kritik Eric Voegelins an Hans Kelsen, S. 30. - Wenn Herz schreibt: „Die später von Voegelin vorgebrachte Kritik an Kelsens Theorie bringt gegenüber dem Aufsatz von 1924 nur wenig Neues.“, so stimmt das allerdings höchstens mit Ausnahme des „Autoritären Staates“.

[34] Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze. Nachdruck der 2.Auflage von 1923, Aalen 1960.

[35] Voegelin, Reine Rechtslehre und Staatslehre, a.a.O., S. 81.

[36] Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, a.a.O., S. 217. - Vgl. dagegen die Einleitung zur zweiten Auflage, ebd., S. X-XII.

[37] Vgl. Voegelin, Reine Rechtslehre und Staatslehre, S. 85.

[38] Herz beurteilt Voegelins Rückgriff auf den „organischen Liberalismus“ des 19. Jahrhunderts recht treffend als einen „gewagten Anachronismus“ (Herz, a.a.O., S. 64.).

[39] Vgl. Voegelin, Reine Rechtslehre und Staatslehre, S. 129. - Vgl. Kelsen, juristischer und soziologischer Staatsbegriff, S. 45ff. (§ 7-11), S. 140 (§ 23).

[40] Eric Voegelin: Zur Lehre von den Staatsformen, in: Zeitschrift für öffentliches Recht VI, Wien 1927, S. 572-608.

[41] Vgl. Voegelin, a.a.O., S. 589-594.

[42] Eric Voegelin: Kelsens Pure Theory of Law, in: The collected Works of Eric Voegelin. Volume 7. Published Essays 1929-1928. (Ed. Thomas W. Heilke and John von Heyking), Columbia and London 2003, S. 182-192, zuerst in: Political Quarterly 42, no. 2 (1927), S. 268-76.

[43] Vgl. Voegelin, Kelsen's Pure Theory of Law, a.a.O., S. 184-188

[44] Vgl. Voegelin, Kelsen's Pure Theory of Law, a.a.O., S. 191.

[45] Eric Voegelin: Die Souveränitätstheorie Dickinsons und die Reine Rechtslehre, in: Zeitschrift für öffentliches Recht VIII, Frankfurt 1969 (Wien, Berlin 1929), S. 413-434.

[46] Vgl. Voegelin, Souveränitätstheorie Dickinsons, S. 420-421.

[47] Vgl. Voegelin, Souveränitätstheorie Dickinsons, S. 429-431.

[48] Vgl. Voegelin, Souveränitätstheorie Dickinsons, S. 422ff.

[49] Eric Voegelin: Die Einheit des Rechtes und das soziale Sinngebilde Staat, in: Revue Internationale de la Théorie du Droit 5, 1930, S. 58-89.

[50] Voegelin stützt auf Bierlings Werk „Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe“ (I. Bd., 1877), sowie dessen „Juristische Prinzipienlehre“, Band I, 1894.

[51] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 58-61.

[52] Eric Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 65.

[53] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 69/70.

[54] Vgl. Günther Winkler: Rechtswissenschaft und Rechtserfahrung, Wien / New York, S. 41ff.

[55] Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 81.

[56] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 64.

[57] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 71.

[58] Vgl. ebd.

[59] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 74-76.

[60] Vgl. Voegelin, Die Einheit des Rechts und das soziale Sinngebilde Staat, a.a.O., S. 82.

[61] Eric Voegelin: Die Verfassungslehre von Carl Schmitt. Versuch einer konstruktiven Analyse ihrer staatstheoretischen Prinzipien, in: Zeitschrift für öffentliches Recht XI, 1931, S. 89-109.

[62] Voegelin, Die Verfassungslehre von Carl Schmitt, S. 91.

[63] Voegelin, Die Verfassungslehre von Carl Schmitt, S. 91.

[64] Voegelin, Die Verfassungslehre von Carl Schmitt, a.a.O., S. 92.

[65] Vgl. Günther Winkler: Eric Voegelin und Hans Kelsen. Geistesgeschichtliche Notizen über eine wissenschaftliche Schüler- Lehrerbeziehung in der „Wiener Schule der reinen Rechtslehre“, Archiv der Universität Wien, S. 17.

[66] Vgl. Winkler, Geleitwort, S. XXIV.

[67] Eric Voegelin: Rasse und Staat, Tübingen 1933, S. 5-7.

[68] Voegelin, Rasse und Staat, a.a.O., S. 7.

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