Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I |
Inhalt |
Den Begriff der „klassischen“
oder auch „Laplaceschen“ Wahrscheinlichkeit kann man als
eine Art Vorläufer der Häufigkeitstheorie betrachten. Der klassischen
Wahrscheinlichkeit merkt man die Herkunft der Wahrscheinlichkeitstheorie
aus dem Glücksspiel am deutlichsten an, denn sie definiert die Wahrscheinlichkeit
als:
Wobei unter „günstigen“ Fällen diejenigen Fälle aus einer
nicht-leeren Grundgesamtheit von gleichartigen möglichen Fällen
zu verstehen sind, die - aus welchem Grund auch immer - von Interesse
sind. Typische Fälle sind z.B. die Wahrscheinlichkeit aus einem Stapel
von 52 Spielkarten (mögliche Fälle) ein As zu ziehen (günstige Fälle),
oder im Roulette unter allen möglichen Zahlen (einschließlich der Null
37 mögliche Fälle) eine gerade Zahl zu bekommen (18 günstige Fälle).
Zu den wesentlichen Eigenschaften der klassischen Wahrscheinlichkeit
gehört, dass sie ähnlich wie die etwas weiter unten besprochenen Propensitäten
eine Wahrscheinlichkeit für den Einzelfall beschreibt. Auch
wenn der Begriff der Wahrscheinlichkeit auf eine Gesamtheit von mehreren
möglichen Fällen bezogen ist, ist es keineswegs erforderlich, dass
der Vorgang, um den es geht (also z.B. das Ziehen einer Karte), mehrfach
wiederholt wird oder wiederholbar ist, damit der klassische Begriff
der Wahrscheinlichkeit Sinn hat. Denn auch, wenn man nur ein einziges
Mal Roulette spielt, hat es Sinn zu sagen, dass es 37 mögliche und,
wenn man z.B. auf Zahl setzt, einen günstigen Fall gibt.
Die möglichen Fälle, aus denen sich die Grundgesamtheit zusammensetzt, müssen sich wechselseitig ausschließen, wobei aber sicher ist, dass irgendeiner der Fälle eintritt, und sie müssen in einem gewissen Sinne „gleichartig“ sein. Diese „Gleichartigkeit“ lässt sich zwar im Einzelfall näher beschreiben (etwa bei einem Würfel die gleichmäßige Form und Masseverteilung), aber nicht leicht allgemein charakterisieren, denn die naheliegende Charakterisierung, dass die Fälle der Grundgesamtheit gleichartig sind, wenn sie alle gleichwahrscheinlich sind, fällt aus, weil sonst die Definition der (klassischen) Wahrscheinlichkeit zirkulär werden würde.
Ereignisse kann man in der klassischen Wahrscheinlichkeit in naheliegender Weise als Mengen möglichen Fäller und damit Teilmengen der Grundgesamtheit auffassen. Das Ereignis, aus einem Kartenspiel ein As zu ziehen umfasst beispielsweise die vier möglichen Fälle: Kreuz-As, Pik-As, Herz-As, Karo-As. (Daher bietet sich für die klassische Wahrscheinlichkeit auch in besonderer Weise die mengentheoretische Darstellung der mathematischen Wahrscheinlichkeit an, aber man kann ebensogut - der aussagenbasierten Darstellung in der letzten Vorlesung folgend - davon sprechen, dass das Ereignis, dass ein As gezogen wird, eingetreten, wenn die Aussage, „es wurde ein As gezogen“, wahr ist. Aussagen über Ereignisse kann man dabei immer mittels und-Verknüpfung aus Aussagen über Fälle der Grundgesamtheit zusammensetzen.)
Eine weitere Frage wäre die, ob man die klassische Definition eher als logisch-theoretische oder als empirische Definition auffassen will. Grundsätzlich ist die Definition eher logisch-theoretischer Natur und nur in dem weitläufigen Sinn empirisch als die Begriffe „günstige Fälle“, „mögliche Fälle“ und „Anzahl“ in einer unbestimmt großen (und nicht einmal zwangsläufig nicht-leeren) Menge von empirischen Anwendungskontexten einen konkreten Sinn haben. Bezieht man diesen Wahrscheinlichkeitsbegriff auf einen bestimmten Anwendungskontext, so geht man davon aus, dass die Eigenschaften der Gleichartigkeit und der wechselseitigen Ausschließlichkeit in diesem Kontext gegeben sind, was sich aber immer auch als empirisch falsch herausstellen kann.
Zu zeigen ist nun, dass die so definierte Wahrscheinlichkeit die kolmogorowschen Axiome erfüllt. Wir gehen dazu die Axiom einzeln durch:
Die kolmogorowschen Axiome werden also durch den Begriff der klassischen Wahrscheinlichkeit erfüllt. Aber wie verhält es sich mit der bedingten Wahrscheinlichkeit? Da es für die bedingte Wahrscheinlichkeit eine mathematische Definition gibt (), könnten wir uns eigentlich dabei beruhigen. Allerdings bliebe die klassische Definition der Wahrscheinlichkeit sehr unbefriedigend, wenn man nicht auch die bedingte Wahrscheinlichkeit in Bezug mögliche und günstige Fälle (also in Bezug auf das „Modell“ der klassischen Wahrscheinlichkeit) definieren würde. Tut man das aber, dann muss man zeigen, dass diese Definition mit dem mathematischen Begriff der bedingten Wahrscheinlichkeit übereinstimmt.
Für die klassische Wahrscheinlichkeit lässt sich die bedingte Wahrscheinlichkeit
in naheliegender Weise folgendermaßen definieren: Die bedingte Wahrscheinlichkeit
ist die Anzahl der Fälle, in
denen sowohl das Ereignis als auch
das Ereignis eintritt, geteilt durch
die Anzahl der Fälle, in denen nur
eintritt. Wenn unmöglich ist, dann
setzen wir die bedingte Wahrscheinlichkeit auf 0 fest. Für
entspricht die Definition dann bereits unmittelbar der Standarddefinition
von .
Andernfalls gilt:
Die Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit in Bezug auf mögliche und günstige Fälle entspricht also genau der mathematischen Definition der bedingten Wahrscheinlichkeit.
Die Laplace'sche Wahrscheinlichkeit ist sicherlich die verständlichste und naheliegendste Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Sie wirft aber auch eine Reihe von mehr oder minder gravierenden Problemen auf:
Eine Antwort auf die letzte Frage gibt insbesondere die Häufigkeitstheorie der Wahrscheinlichkeit, der wir uns nun zuwenden.
[56] Da „jedes“ sichere Ereignis alle Fälle der Grundgesamtheit enthalten muss, gibt es nur noch ein sicheres Ereignis.