Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
    4.1 Wahrscheinlichkeiten I: Rechentechniken
    4.2 Wahrscheinlichkeiten II: Interpretationsfragen nicht klausurrelevant!)
        4.2.1 Objektive Wahrscheinlichkeit
        4.2.2 Subjektive Wahrscheinlichkeiten
        4.2.3 Aufgaben
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

4.2 Wahrscheinlichkeiten II: Interpretationsfragen nicht klausurrelevant!)

Diese Vorlesung setzt zwar keine besonders tiefgehenden Mathekenntnisse voraus, dürfte für mathematisch Ungeübte aber trotzdem streckenweise schwer zu verstehen sein! Wer sie nicht oder nicht ganz versteht, sollte darüber hinweg lesen. Die folgenden Vorlesungen setzen zwar die Kenntnisse der elementaren Wahrscheinlichkeitsrechnung aus der letzten Vorlseung voraus, aber nicht unbedingt das Verständnis der diese Woche besprochenen philosophischen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs.

In der letzten Vorlesungsstunde haben wir uns mit dem mathematischen Wahrscheinlichkeitskalkül und den grundlegenden Rechentechniken der Wahrscheinlichkeitsrechnung vertraut gemacht. Wie man mit Wahrscheinlichkeiten rechnet wissen wir also nun. Eine ganz andere Frage ist die, was Wahrscheinlichkeiten eigentlich sind. Während die mathematische Theorie der der Wahrscheinlichkeiten spätestens seit der Axiomatisierung durch Kolmogorow in ihren Grundlagen feststeht, ist die philosophische Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, wie zu erwarten, ein äußerst umstrittenes Feld. In der letzten Stunde wurde bereits erwähnt, dass es grundsätzlich drei unterschiedliche Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gibt:

  1. Häufigkeitstheorie: Die Wahrscheinlichkeit bezeichnet die Häufigkeit des Vorkommens eines Merkmals in einer Gesamtheit.
     
  2. Glaubensgrad (subjektive Wahrscheinlichkeit): Die Wahrscheinlichkeit bezeichnet den Grad des Glaubens an das Eintreten eines Ereignisses, z.B. wenn man eine Wette abschließt.
     
  3. Propensitäten (objektive Wahrscheinlichkeit): Die Wahrscheinlichkeit bezeichnet die „Neigung“ mit der Ereignisse in der äußeren Welt eintreten, z.B. die Neigung, mit der bei starkem Neuschnee in einem bestimmten Gebiet Lawinen ausgelöst werden.

Andere Einteilungen sind wie immer möglich (Schurz beispielsweise unterscheidet lediglich die „statistische (objektive) Wahrscheinlichkeit“ von der „subjektive[n] (epistemischen) Wahrscheinlichkeit“ (Schurz 2006, S.99)]).

Diese unterschiedlichen Interpretationen der Warscheinlichkeitstheorie wollen wir in dieser Vorlesungsstunde genauer betrachten. Am wichtigsten sind dabei die subjektiven Wahrscheinlichkeiten, weil sich die Nutzen- und Entscheidungstheorie sehr wesentlich auf subjektive Wahrscheinlichkeiten stützt. Wir werden sie daher ausführlich zum Schluss der Vorlesung besprechen. Zunächst soll kurz auf die Häufigkeitstheorie und die objektiven Wahrscheinlichkeiten eingegangen werden.

Bevor wir die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsbegriffe im Einzelnen untersuchen, kann man wiederum die Frage stellen, was ein gültiger Wahrscheinlichkeitsbegriff ist, d.h. welche Bedingungen ein Wahrscheinlichkeitsbegriff überhaupt erfüllen muss, damit wir ihn als Begriff von Wahrscheinlichkeit anerkennen. Da die mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie einigermaßen feststehen, können wir vereinbaren solche Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs als gültig zu erachten, von denen wir zeigen können, dass sie die kolmogorwschen Axiome erfüllen. Im Folgenden werden wir daher bei allen Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zeigen, dass für das entsprechende Wahrscheinlichkeitskonzept die kolmogorwschen Axiome gelten.

Man kann natürlich weiterhin die Frage stellen, was passiert, wenn wir eine Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegiffs finden, die uns zwar nach dem Maßstab unseres Sprachgefühls als Ausdruck von „Wahrscheinlichkeit“ erscheint, die aber nicht die kolmogorowschen Axiome erfüllt. In diesem Fall hätten wir die Wahl, sie entweder doch nicht als Wahrscheinlichkeitsbegriff gelten zu lassen, oder so etwas wie „nicht-komogorowsche Wahrscheinlichkeiten“ zuzulassen. Aber das eher theoretische Überlegungen, die nur die innere Logik von Definitionen und Begriffsbildungen vor Augen führen sollen und außerdem als Hinweis dienen können, dass die hier besprochenen Wahrscheinlichkeitsbegriffe selbstverständlich nicht für alle Zukunft fest stehen müssen. Für die im Folgenden zu untersuchenden Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs lässt sich jeweils zeigen, dass sie die Kolmogorowschen Axiome erfüllen.

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