Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
        3.3.1 Historische Beispiele
            3.3.1.1 Die Wilmot-Klausel
            3.3.1.2 Die Präsidentschaftswahl von 1860
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3.3.1.2 Die Präsidentschaftswahl von 1860

In der Präsidentschaftswahl von 1860 erblickt Riker geradezu eine Wiederholung des - wie wir gesehen haben in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen - Ungleichgewichts bei der Entscheidung über die Wilmot-Klausel. Bei der Präsidentschaftswahl von 1860 traten vier Kandidaten an, Abraham Lincoln (Republican Party), Stephen Douglas (Northern Democrats), John Breckinridge (Southern Democrats), John Bell (Constitutional Union Party). Abraham Lincoln gewann die Wahl obwohl auf Douglas die meisten Stimmen entfielen. Dieses Phänomen ist leicht durch das amerikanische Wahlsystem zu erklären, bei dem zunächst innerhalb der einzelnen Bundesstaaten über den Präsidenten abgestimmt wird,[48] und die dann Wahlmänner in das bundesweite Wahlmännerkollegium („electoral college“) entsenden, das dann den Präsidenten wählt. In der Regel stimmen alle Wahlmänner desselben Bundesstates für den Kandidaten, auf den im Bundesstaat die meisten Stimmen entfallen sind, was zu erheblichen Verzerrungen des Ergebnisses führen kann und in diesem Fall auch geführt hat.

Riker glaubt, dass darüber hinaus die kollektiven Präferenzen der Amerikaner bezüglich drei der vier Präsidentschaftskandidaten in einem Zyklus gefangen waren, dass also galt. In Ermangelung von zuverlässugen Daten über die Präferenzen über alle vier Kandidaten[49] rechtfertigt Riker seine These wiederum mit einer Schätzung der vollen Präferenzen, die er nach Regionen aufschlüsselt. (Riker 1982, S. 230/231) Wie er zu seiner Schätzung kommt, bleibt im Dunkeln. Mit seiner Schätzung ergibt sich aber der von ihm behauptete Zyklus. In den Fällen, in denen das Condorcet-Verfahren (paarweise Stichwahl über alle Paare von Alternativen) einen Zyklus zu Tage fördert, hat das die Folge, das unterschiedliche, wenn auch jeweils mit gutem Recht als demokratisch angesehene Wahlverfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Riker führt mehrere solcher Verfahren und die sich aus ihnen ergebenden kollektiven Präferenzen an:

  1. Mehrheitswahlrecht:
     
  2. Paarweiser Vergleich (Condorcet):
     
  3. Borda Zählung (siehe Aufgabe 3.4.1):
     
  4. Wahl durch Zustimmung (zwei Stimmen):
     
  5. Wahl durch Zustimmung (drei Stimmen):

Bei fünf unterschiedlichen Wahlsystemen gewinnt Douglas zweimal, sonst jedesmal ein anderer. Damit kann Riker seine These der Sinnlosigkeit der sozialen Wahl stützen (im Falle eines Ungleichgewichts und zugleich im Allgemeinen, wenn man mit Riker annimmt, dass solche Ungleichgewichte häufig vorkommen). Selbst wenn man nämlich die Lincoln-Wahl mit Hinweis auf das amerikanische Mehrheitswahlsystem, das bekanntermaßen zu starken Verzerrungen führen kann, kritisiert, so zeigt sich, wenn man Riker folgt, dass ein „besseres“ Wahlsystem hier auch keine Abhilfe schafft, da unterschiedliche „bessere“ Wahlsysteme zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, womit jedes Ergebnis als ein zufälliges Artefakt des jeweiligen Wahlsystems erscheint.

Mackies Kritik an Rikers Analyse fällt ziemlich elaboriert aus. Das hängt damit zusammen, dass auch Mackie nicht um das Problem herum kommt, dass wir über keine zuverlässigen Daten über die vollen Präferenzen der Bürger bezüglich ihrer vier Kandidaten verfügen, die er aber ebenso benötigen würde, um Riker widerlegen zu können, wie Riker sie bräuchte, um seine These aufzustellen. Eine der wichtigsten Annahmen von Riker ist dabei die, dass die meisten Lincoln-Wähler Bell und nicht Douglas an die zweite Stelle setzten. Mackie zieht für seine, von Riker abweichende Schätzung, drei unterschiedliche Informationsquellen heran: 1. Das historische Wissen über die damals verbreiteten politischen Standpunkte. 2. Aggregierte Daten auf Landkreis, Staats- und Sektionsebene. 3. Die aus einer anderen Studie übernommenen Ergebnisse einer Umfrage unter Fachhistorikern dieser Epoche bezüglich der vermuteten Präferenzordnung der damaligen Wähler. (Mackie 2003, S. 277) Im Ergebnis kommt Mackie dabei zu einer anderen Präferenzordnung aus der sich kein Zyklus der nach dem Condorcet-Verfahren abgeleiteten kollektiven Präferenzen mehr ergibt. Bis auf das Mehrheitswahlrecht, dessen Schwächen hinlänglich bekannt sind, liefern alle von Riker zum Vergleich herangezogenen Verfahren dasselbe Ergebnis: Douglas hätte die Wahl gewinnen müssen. Von einem Ungleichgewicht keine Spur.

Um dieses Thema abzuschließen, könnte man angesichts der Tatsache, das Lincoln eine Wahl gewonnen hat, in der ein anderer Kandidat, nämlich Douglas, die meisten Stimmen erhielt, könnte man immer noch die Frage an Rikers These der „Zufälligkeit“ demokratischer Entscheidungen angelehnte Frage aufwerfen, ob nicht der Bürgerkrieg auch ein Artefakt der amerikanischen Mehrheitswahlsystems gewesen ist. Oder anders gefragt: Was wäre geschehen, wenn Douglas die Wahl gewonnen hätte? Kontrafaktische historische Überlegungen sind immer eine heikle Sache, denn wir verfügen ebenso wenig über das Wissen, das uns ermöglichen würde, die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit alternativer Geschichtsverläufe zuverlässig einzuschätzen, wie wir die Geschichte vorher sagen können. Trotzdem sollen zu dieser Frage einige Überlegungen angeführt werden: 1. Die Polarisierung des Landes durch die Sklavereifrage, war nicht die Folge einer oder weniger einzelner, möglicherweise zufälliger politischer Entscheidungen, sondern einer ganzen Reihe von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vorgängen. Insofern war sie für eine gewisse Zeit eine relativ stabile Konstante der amerikanischen Politik. 2. Douglas vertrat in der Sklavereifrage die Doktrin der „popular souvereignity“, der zufolge die neu hinzugekommenen Territorien darüber auf lokaler Ebene selbst entscheiden sollten. Diese Politik hatten auch die meisten Präsidenten vor Lincoln verfolgt, in der Hoffnung durch diese sehr politische Haltung die Wogen glätten und die Streitfrage auf Bundesebene entschärfen zu können. Diese Hoffnung hatte sich schon vorher als trügerisch erwiesen. Am Vorabend der Wahl waren die Südstaatler kaum noch bereit, sich mit dem vermittelnden Standpunkt Douglas' zufrieden zu geben, was auch daran deutlich wird, dass die Southern Democrats mit Breckinridge einen Kandidaten aufstellten, der einen viel entschiedeneren Pro-Sklaverei Standpunkt vertrat. Insofern ist es fragwürdig ob Douglas als Gewinner der Wahl die Sezession der Südstaaten hätte verhindern können. 3. Letzteres gilt umso mehr als Lincoln die Bereitschaft signalisierte, den Südstaaten weitgehend entgegen zu kommen, auch in der Sklavereifrage. Nur an einer Forderung hielt er unverbrüchlich fest: Die Sezessionisten müssten sich wieder in die Union eingliedern. Wenn diese - natürlich sehr spekulativen - Überlegungen stimmen, dann hätte ein anderes Wahlsystem (und damit ein anderer Präsident) an der Sezession und dem darauf folgenden Bürgerkrieg nichts geändert. Der weitere Verlauf der amerikanischen Geschichte wäre dann in jedem Fall kein „zufälliges“ Artefakt des Wahlsystems mehr gewesen.

[48] Zu Lincolns Zeiten galt das noch nicht für alle Bundesstaaten. In South Carolina etwa entschied die politische Elite statt der Bürger für welchen Präsidenten die Wahlmänner votieren sollten.

[49] Bekannt ist nur, welcher Kanditat in den einzelnen Regionen an die Spitze kam

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