Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
        3.3.1 Historische Beispiele
            3.3.1.1 Die Wilmot-Klausel
            3.3.1.2 Die Präsidentschaftswahl von 1860
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3.3.1.1 Die Wilmot-Klausel

Bei der Wilmot-Klausel handelt es sich um eine vom Abgeordneten David Wilmot vorgeschlagene Ergänzung zu einem vom damals regierenden Präsidenten James K. Polk eingebrachtem Budget-Gesetz. Das Budgetgesetz („appropriations bill“) von Polk sah vor einer größere Summe an Haushaltsmitteln zur Bestechung der mexikanischen Armee einzustzen, um den Krieg mit Mexiko, der über die Annexion von Texas entbrannt war, frühzeitig und mit vorteilhaftem Friedensschluss zu beenden. Wilmot brachte nun erstmals den Ergänzungsvorschlag ein, dass die Mittel dafür nur bewilligt werden sollten, wenn die neu erworbenen Territorien den „freien“ Staaten bzw. Territorien zugeschlagen würden, in denen das Verbot der Sklaverei galt. Der Antrag wurde in den folgenden Jahren mehrmals eingebracht. Wie bei derartigen Anträgen üblich, fanden mehrere Lesungen und Abstimmungen darüber statt. Das um den Antrag erweiterte Gesetz wurde schließlich vom Repräsentatenhaus verabschiedet, scheiterte aber im Senat durch einen filibuster.[46]

Im Ergebnis wurde also weder das Budgetgesetz noch das um die Wilmot-Klausel erweiterte Budgetgesetz verabschiedet, sondern der Krieg mit Mexiko noch einige Jahre weiter geführt. Auch wenn der Krieg schließlich siegreich beendet wurde, so war dies - nach Rikers in diesem Punkt glaubwürdiger Deutung - die von den meisten am wenigsten präferierte Alternative. Wie kam es dann aber, dass gerade diese Alternative gewählt wurde. Riker zufolge ist das auf einen Zyklus in den Präferenzen zurückzuführen. Bezüglich der Mitglieder des Repräsentantenhauses führt zunächst er folgende Schätzung ihrer Präferenzen an („There is not enough votes to ascertain preference orders, but it is easy to guess what they were.“ (Riker 1982, S. 227)), wobei für das ursprüngliche Budgetgesetz steht, für das Budgetgesetz mit Wilmot-Klauses und für den status quo:

Abgeordnete Faktion Präferenzen
7 Northern administration Democrats
51 Northern Free Soil Democrats (Wilmot)
8 Border Democrats or
46 Southern Democrats
2 Nothern Prowar Whigs
39 Nothern Antiwar Whigs
3 Border Whigs or
16 Southern and Border Whigs

Quelle: (Riker 1982), S. 227.

Aus dieser Schätzung lassen sich die kollektiven Präferenzen ableiten:

  1. , was wie Riker (leider irrtümlich) glaubt auch das Ergebnis einer der Abstimmungen war, die am 8. August 1846 stattfanden.
     
  2. , weil zu erwarten ist, dass die Demokraten ihren Präsidenten unterstützen.
     
  3. , auf Grund einer Mehrheit von Südstaatlern, die die Wilmot-Klausel ablehnen und Nordstaaten-Whigs, die den Krieg ablehnen, und dementsprechend, wie Riker glaubt, jede Art von Kriegspolitik der Administration obstruieren.

Es liegt, wenn man dieser Schätzung folgt, also ein Zyklus vor, oder mit Rikers Worten: „So there is a clearcut cyclical majority, which is of course complete disequilibrium.“ (Riker 1982, S. 227) Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei um den letzten und schließlich erfolgreichen Versuch der Whigs, ein politisches Thema zu konstruieren, mit dem es ihnen gelingen würde die demokratische Partei zu spalten: „the Wilmot Proviso may thus be regarded as the final act in the construction of the slavery issue.“ (Riker 1982, S. 227). Seine Ansicht, dass das Aufkommen des Sklaverei-Themas vorwiegend strategischen Überlegungen und politischem Opportunismus zu verdanken ist, stützt sich dabei (lediglich) auf einige Tagebuch-Äußerungen des Präsidenten Polk, der den Leuten, die ihm das Regieren schwer machten, allein solch oberflächliche Motive zugestehen mochte.

Was ist von Rikers Deutung zu halten? Folgt man Mackies detaillierter Kritik, dann beruht sie zunächst auf einigen sachlichen Fehlern, deren gröbster der ist, dass Riker eine Abstimmung über das um die Wilmot-Klausel erweiterte Budget-Gesetz mit einer Abstimmung über die Erweiterung (also nur die Wilmot-Klausel) verwechselt. Dementsprechend deutet Riker ein Abstimmungsergebnis als Ausdruck von , welches in Wirklichkeit ausdrückt. Die Präferenz wird nicht nur durch eine sondern gleich durch mehrere Abstimmungen im Reprästentantenhaus bestästigt (Mackie 2003, S. 243ff.). Damit ist aber nicht nur Rikers Annahme, dass , hinfällig, sondern auch die, dass überhaupt in dieser Frage zyklische Präferenzen vorlagen. Seine Schätzung der Präferenzen der einzelnen Faktionen im Repräsentantenhaus ignoriert vorliegende Abstimmungsergebnisse, durch die sich z.B. die Annahme, die Nordstaaten Whigs hätten als Gegner des Mexiko-Krieges Obstruktionspolitik betrieben, eindeutig wiederlegen lässt. Mackie vermutet, dass ihre Haltung eher die gewesen ist, den Krieg abzulehnen, aber den Truppen im Feld dennoch volle Unterstützung zuzusichern, eine Haltung für die man auch in anderen Kriegen beispiele findet (Mackie 2003, S. 248). (sinngemäss kann man die Haltung so ausdrücken: „Wir sind gegen den Krieg, aber wir lassen unsere Jungs trotzdem nicht im Stich!“) Rikers Fehler ist umso peinlicher, als er als Politikwissenschaftler hätte wissen müssen, dass über einen Gesetzesentwurf, bevor er vom Repräsentantenhaus an den Senat weitergeleitet wird, erst noch einmal im Ganzen abgestimmt wird. Peinlich ist der Fehler nicht nur für Riker, sondern auch für diejenigen (vorwiegend Vertreter des Public Choice Ansatzes!), die ihn nicht bemerkt haben. Von Mackie wird dies dementsprechend bissig kommentiert:

Theoretically, any reader should be able to detect the nonsensical error emodied in Riker's claim that SQ > WP [, E.A.] even without going back to check the references to the records of Congress, yet for almost twenty years many intelligent people have repeated this story without reporting the error. I feel that it is my reluctant duty to report a problem with public-choice style of explanation. This style of explanation is often not immediately intuitive yet is gilded with an abstract formalism that suggests that something important and believable is being said. I am not the first to suggest that there is no necessary relationship between formalism and profundity, and that it is just as possible that such models obscure as that they reveal. (Mackie 2003, S. 246)[47]

Auch Rikers These, dass sich die „Konstruktion“ des Sklaverei-Themas vor allem politisch-taktischem Opportunismus verdankte, und sich dieses Thema in einer Art von natürlichem Selektionsprozess als dasjenige durchgsetzt hat, mit dem es den Whigs gelang ihre Gegener zu spalten, erscheint fragwürdig. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts ein von der Politik eher unbeachtetes Thema teilte es in der Mitte des 19. Jahrhunderts das ganze Land in zwei Lager. Sowohl die Presbyterianer als auch Methodisten spalteten sich darüber. (Warum hätten Sie das wegen eines Themas, das aus bloß taktischen Gründen von der Teilen der politischen Klasse „konstruiert“ worden ist, tun sollen?) Dass sich das Thema Sklaverei in der Politik auch mit „opportunistischen“ Erwägungenen verband - so lehnte die Free Soil Party die Sklaverei auch wegen der geführchteten Konkurrenz durch billige Sklavenarbeit ab - schliesst nicht aus, dass es aus Sicht vieler Politiker und anderer Bürger zugleich ein genuin moralisches Anliegen war. Angesichts der Leidenschafttlichkeit, mit der über die Frage der Sklaverei im Vorfeld des Bürgerkriegs gestritten wurde, wirkt Rikers Deutung eher etwas gezwungen.

[46] Mangels einer Redezeitbegrenzung ist es im amerikanischen Senat möglich, durch beliebig lange Reden einen Gestzesentwurf zu blockieren, auch wenn (zunächst) keine Chance besteht, ihn durch eine Abstimmungsmehrheit zu Fall zu bringen. Dieses Vorgehen wird als „filibuster“ bezeichnet.

[47] Man müsste auf diesem Fehler nicht herumreiten, wenn es ein Einzellfall wäre. Aber leider sind derartige Schwächen in der empirischen Anwendung des Public Choice-Ansatzes ein häufig anzutreffendes Problem.

t g+ f @