Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
    5.1 Die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
    5.2 Diskussion der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie
        5.2.1 Unterschiedliche Lesarten der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie
        5.2.2 „Paradoxien“ der Nutzentheorie
            5.2.2.1 Allais' Paradox
            5.2.2.2 Ellsberg Paradox
            5.2.2.3 St. Petersburg Paradox
            5.2.2.4 Das Hellseherparadox
        5.2.3 Aufgaben
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

5.2.2.4 Das Hellseherparadox

(auch bekannt als „Newcomb's Paradox“)

Das Hellseherparadox taucht des öfteren in phil"-osophischen Diskussionen auf, wenn solche Fragen erörtert werden, wie die des Unterschieds zwischen Korrelation und Kausalität oder der Mög"-lichkeit zeitlich rückwärts gerichteter Kausalität. Für die Entscheidungstheorie hat das Hellseherparadox vergleichsweise geringere Bedeutung, zumal es sich ebenso leicht wie die anderen lösen lässt. Die Geschichte zu diesem Paradox ist zunächst die Folgende:

Ein Hellseher hat in einem Raum zwei Schachteln aufgestellt, eine rote und eine blaue. In die rote Schachtel legt er 1.000 €. Die blaue Schachtel ist zunächst leer. Nun wird einer der Zuschauer gebeten, den Raum zu verlassen. Wenn er wiederkehrt, wird er vor die Wahl gestellt entweder nur die blaue oder beide Schachteln zu nehmen. Er bekommt dann den Inhalt derjenigen Schachteln, die er genommen hat. Damit das Ganze interessanter wird, erklärt ihm der Hellseher, dass er inzwischen vorhersagen wird, welche Entscheidung der Zuschauer treffen wird, und dass er, wenn er vorhersagt, dass der Zuschauer nur die blaue Schachtel nimmt, 1.000.000 € in die blaue Schachtel legen wird. Dem Zuschauer ist bekannt, dass der Vorhersager bisher in 90% der Fälle richtig vorhersagt hat. Welche Schachtel sollte der Zuschauer wählen? (Resnik 1987, S. 109)

Das Paradox entsteht nun dadurch, dass man mit Hilfe der Entscheidungstheorie scheinbar genauso gut die eine wie die andere Lösung rechtfertigen kann.

1. Rechtfertigung der Wahl beider Schachteln: Da der Hellseher seine Vorhersage abgibt, bevor der Zuschauer eine Wahl trifft, sind die möglichen Zustände (blaue Schachtel ist leer oder blaue Schachtel ist nicht leer) unabhängig von der Wahl des Zuschauers. Als Tabelle dargestellt sieht das Entscheidungsproblem wie unten abgebildet aus, wobei die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der Ereignisse unbekannt sind, aber wegen der Unabhängigkeit von den Handlungen dieselben sind:

blaue Schachtel leernicht leer
Nimm blaue Schachtel 0 € 1M €
Nimm beide Schachteln 1.000 € 1M + 1.000 €

Wie man sieht, ist die Handlung beide Schachteln zu nehmen streng dominant, d.h. sie liefert, welches Ereignis auch immer eintritt, stets das bessere Ergebnis. Also sollte der Zuschauer in jedem Fall beide Schachteln nehmen.

2. Rechtfertigung der Wahl der blauen Schachtel: Der Hellseher verfügt offenbar tatsächlich über die Gabe des Hellsehens, sonst würde er nicht zu 90% richtig vorhersagen. Also variiert die Wahrscheinlichkeit, mit der die blaue Schachtel leer ist oder nicht, mit der Wahl, die der Zuschauer trifft. Die Entscheidungstabelle müsste korrekterweise so dargestellt werden:

blaue Schachtel leernicht leer
Nimm blaue Schachtel 0 € (p=0.1) 1M € (p=0.9)
Nimm beide Schachteln 1.000 € (p=0.9) 1M + 1.000 € (p=0.1)

Da es sich um eine Entscheidung unter Risiko handelt, bei der das Erwartungsnutzenprinzip gilt, ist unser Zuschauer gut beraten, wenn er nur die blaue Schachtel nimmt.

Handelt es sich hierbei tatsächlich um ein Paradox und leidet die Entscheidungstheorie an Antinomien, d.h. an inneren Widersprüchen? Wie bei sovielen philosophischen Antinomien[76] entsteht der Schein eines Widerspruchs nur dadurch, dass bei beiden Argumentationen jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen wird. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich gar nicht um einen Widerspruch, sondern darum, dass in dem einen wie in dem anderen Fall aus unterschiedlichen Voraussetzungen Unterschiedliches abgeleitet wird. Bei der ersten Rechtfertigung wird vorausgesetzt, dass Hellseherei nicht möglich ist. Bei der zweiten dagegen, dass sie möglich ist. Die beiden Argumentationen kommen also deshalb zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil sie von unterschiedlichen Problemspezifikationen ausgehen. Dass die Entscheidungstheorie bei unterschiedlichen und einander widersprechenden Problemspezifikationen unterschiedliche Lösungen liefert ist nur natürlich und verweist nicht auf einen Widerspruch innerhalb der Entscheidungstheorie.

[76] Die berühmten Antinomien aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sind dafür das paradigmatische Beispiel, leider auch hinsichtlich der Tatsache wie ein mangelndes Verständnis der logischen Situation zu philosophischen Irrtümern führen kann.

t g+ f @