Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
    5.1 Naturwissenschaft und Politikwissenschaft
    5.2 Voegelins Begriff der Realität
        5.2.1 Die „Spannung zum Grund“ als Ursprung der Ordnung
        5.2.2 Die „noetische“ Exegese bei Aristoteles
        5.2.3 Der Begriff der politischen Realität
    5.3 Kritik von Voegelins Realitätsbegriff
    5.4 Die Theorie der sprachlichen Indizes
    5.5 Kritik von Voegelins Sprachtheorie
    5.6 Die Stufen des Ordnungswissens
    5.7 Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deutung
    5.8 Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik
    5.9 Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus
    5.10 „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen
    5.11 Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen
    5.12 Fazit
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

5.2.1 Die „Spannung zum Grund“ als Ursprung der Ordnung

Politische Ordnung entspringt Voegelin zufolge in letzter Instanz einer inneren Erfahrung des Menschen, der Erfahrung, geordnet zu sein „durch die Spannung zum göttlichen Grund seiner Existenz“.[232] Von dieser Erfahrung „strahlen“ in einer nicht näher spezifizierten Weise „die Interpretationen gesellschaftlicher Ordnung aus“.[233] Da diese Erfahrung nicht gegenständlich ist (ähnlich, vermutlich, wie auch eine Stimmung oder das Lebensgefühl eines Menschen nicht gegenständlich sind), kann es „kein sogenanntes intersubjektives Wissen“[234] von der richtigen Ordnung geben, was Voegelin später jedoch nicht im Geringsten daran hindert, strikt auf der intersubjektiven Verbindlichkeit dieser Ordnung zu bestehen.[235] Im Ringen um einen angemessenen Ausdruck für diese innere Erfahrung, welches Anlass für die verschiedensten Interpretationen der richtigen Ordnung gibt, erblickt Voegelin den Ursprung von „Spannungen in der politischen Realität“.[236] So vielfältig die Interpretationen der Ordnung auch sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie alle nur von einem Grund der Ordnung ausgehen, selbst dann, wenn, wie zur Zeit des Aristoteles, das Faktum einer Interpretationsvielfalt schon bekannt ist. Daraus schließt Voegelin, dass es auch tatsächlich nur einen Ordnungsgrund gibt. Dieser Schluss ist jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig: Erstens lässt sich der Befund des Glaubens an einen einzigen (transzendenten) Grund schwer mit polytheistischen Religionen oder mit naturphilosophischen Elementelehren, die mehr als ein Element annehmen (z.B. die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft bei Empedokles), vereinbaren.[237] Zweitens unterscheiden sich die Interpretationen, die einen einzigen Grund annehmen, zum Teil sehr stark voneinander hinsichtlich der Eigenschaften dieses Grundes. Es bleibt daher sehr fraglich, ob in den unterschiedlichen Interpretionen derselbe Grund gemeint ist. Drittens folgt daraus, dass es den Glauben an einen einzigen Grund gibt, weder dass dieser Grund existiert, noch dass es auch in Wirklichkeit nur ein einziger ist.

[232] Voegelin, Anamnesis, S. 287.

[233] Voegelin, Anamnesis, S. 287.

[234] Voegelin, Anamnesis, S. 287.

[235] Vgl. beispielsweise Voegelin, Anamnesis, S. 348-350.

[236] Voegelin, Anamnesis, S. 288.

[237] Es kann berechtigterweise in Zweifel gezogen werden, ob es bei den Elementelehren der Vorsokratiker um die Bestimmung eines Ordnungs-grundes geht. Aber im Zusammenhang der Voegelinschen Interpretation der Philosophiegeschichte wäre diese Annahme konsequent.

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