Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
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Voegelin leitet nun mit einer Kritik an Aristoteles über zu seiner eigenen noetischen Exegese. Die größte Schwäche von Aristoteles' noetischer Exegese erblickt Voegelin darin, daß Aristoteles an zentraler Stelle immer wieder auf den sehr mißverständlichen Ausdruck „Ousia“ zurückgreift. Voegelin zufolge ist dieser Ausdruck noch der mythischen Primärerfahrung verhaftet und bezieht sich auf die „fraglos, selbstverständlich und überzeugend uns entgegentretende Wirklichkeit der `Dinge' “.[231] Dieser mythische Überhang, den Voegelin in diesem Falle offenbar nicht wie im Falle der mythisch begründeten Wesensgleichheit aller Menschen für sachlich notwendig hält, rächte sich historisch, indem spätere Philosophen, bei welchen die noetische Erfahrung so weit in den Vordergrund gerückt war, daß die mythische Primärerfahrung fast völlig verblaßt war, die aristotelische „Ousia“ als Gegenstandsbezeichnung mißverstanden und begrifflich-philosophische Spekulationen daran knüpften. Das Mißverständnis des Aristoteles ist Voegelin zufolge die Ursache für den theologischen und philosophischen Dogmenstreit über Fragen wie die der Unsterblichkeit der Seele, der Beweisbarkeit der Existenz Gottes oder der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt. Das historische Unheil vollendet sich für Voegelin mit der Aufklärung und dem Positivismus, die nicht nur, was noch zu rechtfertigen wäre, die dogmatischen Argumente der mittelalterlichen Philosophie angreifen, sondern die auch die höhere Realität des Partizipierens des Menschen am Seinsgrund leugnen. Dies zieht nach Voegelins Überzeugung auf individueller Ebene die psychopathologische Erscheinung des „realitätslosen Existierens“ und auf gesellschaftlicher Ebene den Totalitarismus nach sich. Voegelin illustriert diese Zusammenhänge mit einigen Beispielen aus der schönen Literatur, worin Wirklichkeitsverlust und Sprachlosigkeit thematisiert werden.[232]
Wenn die noetische Exegese des Aristoteles also in einigen Punkten noch unvollkommen oder wenigstens mißverständlich ist, dann stellt sich natürlich die Frage, wie sie besser durchgeführt werden kann. Voegelin versucht dies, indem er statt der problematischen „Ousia“ des Aristoteles den Begriff der Realität in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. „Realität“ wird gewöhnlicherweise als der Inbegriff all dessen verstanden, was tatsächlich vorhanden ist, im Gegensatz zu dem, was bloß in der Vorstellung oder der Phantasie existiert. Voegelin gebraucht dieses Wort in einem anderen Sinne. Für ihn ist „Realität“ ein Inbegriff bestimmter metaphysischer Seinszusammenhänge, die er in dem Satz zusammenfaßt: „Eine Realität, genannt Mensch, bezieht sich, innerhalb eines umgreifend Realen, durch die Realität des Partizipierens, genannt Bewußtsein, erfahrungs- und bildhaft auf die Termini des Partizipierens als Realitäten“.[233] Der wesentliche Teil dieser Aussage liegt in dem Wort „Partizipieren“ und darin, daß zu den „Termini des Partizipierens“ (denjenigen Dingen, die aneinander partizipieren) auch der „göttliche Grund“ gehört, dessen Existenz Voegelin, wie üblich, ohne weitere Begründung als vermeintliches Erfahrungsfaktum voraussetzt. Weiterhin spielt für Voegelin eine große Rolle, daß der Vorgang der Partizipation und die partizipierenden Bestandteile („Termini des Partizipierens“) einen untrennbaren Gesamtzusammenhang bilden. Wollte man also beispielsweise nur von Gott bzw. dem göttlichen Grund reden, ohne auch auf die Beziehung des Menschen zu Gott einzugehen, so würde man sich nach Voegelins Ansicht wohl eines gedanklichen Fehlers oder wenigstens einer Ungenauigkeit schuldig machen. Voegelin ist um die Wahrung dieses Gesamtzusammenhangs so ängstlich besorgt, daß er es sogar für unumgänglich hält, das Wort „Realität“ vieldeutig zu gebrauchen, derart daß es zugleich sowohl den Gesamtzusammenhang als auch jeden einzelnen Bestandteil des Zusammenhanges und darüber hinaus auch noch die „Symbole“ bezeichnet, die zur Artikulation des Gesamtzusammenhanges oder seiner Bestandteile gebraucht werden.[234] Die „Realität“ des Partizipierens und seiner „Termini“ ist immer und in gleichbleibender Weise vorhanden, unabhängig davon, auf welchem Niveau (noetisch oder prä-noetisch) sie erlebt und artikuliert wird. Sie bleibt als Realität selbst dann noch gegenwärtig, wenn sie geleugnet wird. Etwas irritierend wirkt es auf den ersten Blick, daß Voegelin trotz dieser ausdrücklichen Erklärung wenige Zeilen weiter nicht mehr von der Konstanz der Realität ausgeht, sondern davon spricht, daß die „Realität“ zugleich konstant und veränderlich ist.[235] Vielleicht muß man sich das Partizipieren ähnlich der Beziehung der Verwandtschaft zwischen verwandten Menschen vorstellen, die auch dann noch vorhanden ist, wenn die Verwandten kein Wort miteinander reden, die aber dadurch stark intensiviert werden kann, daß die Verwandten wieder anfangen, miteinander zu kommunizieren, indem sie beispielsweise Geburtstagsgrüße oder Weihnachtskarten austauschen. Auch die Partizipation kann intensiviert werden, wenn sich die Menschen ihrer bewußt werden und sie auf das Niveau „noetischer Erfahrung“ heben. Einen derartigen Zusammenhang scheint Voegelin im Auge zu haben, wenn er von der gleichzeitigen Konstanz und Veränderlichkeit der Partizipation spricht. Im ganzen repräsentiert der Begriff der Realität in Voegelins Gedankengebäude jedoch das Unveränderliche gegenüber den sich wandelnden Erfahrungen und ihren unterschiedlichen Artikulationen.[236]
Ein schwerwiegendes Mißverständnis ist es Voegelin zufolge, wenn auf Grund einer plötzlichen und sehr intensiven Steigerung der Partizipationserfahrung irrtümlich geglaubt wird, der Mensch und die Welt selbst hätten sich nun in ihrem Wesen verwandelt. In diesem Mißverständnis glaubt Voegelin die Ursache sowohl der aufklärerischen Fortschrittsidee als auch von apokalyptischen Visionen und Endzeithoffnungen entdecken zu können.[237] Die Behauptung, daß eine plötzlich intensivierte Partizipationserfahrung die Ursache dieser Phänomene sei, verblüfft ein wenig, da Voegelin unmittelbar zu vor noch das politische Unheil aus der Leugnung der metaphysischen Seinsrealität abgeleitet hat.[238] Besonders deutlich wird diese Unsitmmigkeit bei Voegelins Deutung der aufklärerischen Fortschrittsidee: Wenn die Aufklärung die Leugnung der metaphysischen Realitätserfahrung par exellence verkörpert, wie kann dann die aufklärerische Fortschrittsidee zugleich Ausdruck des Überschießens dieser Realitätserfahrung sein?
Der Überschwang durchbrechender neuer Realitätserfahrung kann weiterhin dazu führen, daß Bewußtsein und Realität, die nach Voegelins Auffassung im Verhältnis eines Teils zum Ganzen stehen, irrtümlich für vollidentisch gehalten werden. Diese Gefahr deutet sich schon bei Aristoteles an, wenn er, an Parmenides anknüpfend, Denken und Gedachtes miteinander identifiziert. Bei Hegel, der wiederum auf Aristoteles zurückgreift, wird dann der göttliche Grund in das Bewußtsein hineingezogen, womit für Voegelin der schwerwiegende Tatbestand gnostischer Spekulation erfüllt ist.[239]
Ausgehend von seiner Vorstellung davon, was Realität in Wahrheit ist, stellt Voegelin nun einige methodologische Grundsätze hinsichtlich der Interpretation von unterschiedlichen Deutungen der Realität („Realitätsbildern“) auf. Selbstredend scheint Voegelin auch hier wieder vorauszusetzen, daß Mythologie, Religion und Philosophie samt und sonders solche „Realitätsbilder“ verkörpern. Zunächst müssen daher die „Realitätsbilder“ als Ausdruck jener von Voegelin als wahr und gültig erkannten „Realitätsform des Partizipierens“[240] verstanden werden. Wenn alle „Realitätsbilder“ als Ausdruck jener einen „Realitätsform“ verstanden werden, so hat dies Voegelin zufolge den wissenschaftsökonomischen Vorteil, daß sich daraus unmittelbar eine Erklärung für die oft überraschende Übereinstimmung räumlich und zeitlich unabhängig voneinander entstandener „Realitätsbilder“ ergibt, ohne daß „okkasionelle Theorien“ zur Deutung solcher Übereinstimmungen gefunden werden müssen. Dies ist ein für Voegelins Verhältnisse überraschend einleuchtendes Argument. Voegelin unterschlägt dabei jedoch, daß jener wissenschaftsökonomische Vorteil dadurch wieder aufgehoben wird, daß nun „okkasionelle Theorien“ zur Erklärung von Abweichungen zwischen „Realitätsbildern“, die es ja auch gibt, erfunden werden müssen. Ein weiterer methodologischer Grundsatz, den Voegelin in diesem Zusammenhang aufstellt, besteht darin, daß „Realitätsentwürfe, die sich als Systeme geben“[241] am Maßstab der Realität, mit welcher selbstredend die von Voegelin als wahr und richtig erkannte Realität des Partizipierens gemeint ist, untersucht werden müssen. Es genügt nicht, sie nur auf Grundlage ihrer eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Voegelin vertritt also wenigstens in Bezug auf bestimmte „Realitätsentwürfe“ inzwischen genau den gegenteiligen Grundsatz zu der im Husserl-Brief aufgestellten Forderung, das Selbstverständnis eines Denkers zur Grundlage der Interpretation seiner Philosophie zu nehmen.
Nachdem Voegelin noch einmal kurz das Thema des „Realitätsverlustes“ gestreift hat, kommt er auf auf die Möglichkeit der „periagogé“, der inneren Umkehr zu sprechen, durch die sich jeder Mensch auch in realitätsverlassener Zeit von falschen „Ersatzrealitäten“ reinigen kann. Als Beispiel zieht Voegelin hier die Entwicklung von Albert Camus heran, in dessen intellektuellem Werdegang er vorbildhaft die inneren Kämpfe verkörpert sieht, die nach Voegelins Ansicht ein Mensch in der heutigen Zeit durchleben muß, „der im Widerstand gegen die Zeit seine Wirklichkeit als Mensch gewinnen will.“[242]
[231] Voegelin, Anamnesis, S.301.
[232] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.302-303.
[233] Voegelin, Anamnesis, S.304.
[234] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.305, S.307. - Daß Voegelin die Vieldeutigkeit des Wortes „Realität“ für notwendig erklärt, verwundert umso mehr, als er sie selber durch den Gebrauch unterschiedlicher und sich auf jeweils andere Aspekte beziehende Ausdrücke („Realität“, „Partizipation“, „Termini des Partizipierens“) zu umgehen weiß. (Vgl. auch: Voegelin, Order and History V, S.16-18. Hier tritt an die Stelle des vieldeutigen Realitätsbegriffes der Komplex von Bewußtsein-Realität-Sprache, dessen einzelne Elemente ebenfalls terminologisch eindeutig gekennzeichnet sind.) Vermutlich haben wir es hier wieder mit dem sprachlogischen Problem der vieldeutigen Ausdrücke zu tun, welches Voegelin so viel Kopfzerbrechen bereitete.
[235] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.306.
[236] Vgl. auch Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Opitz), Stuttgart 1988, S.99-126 (S.107-108 / S.111-112.).
[237] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.307.
[238] Vgl. Anamnesis, S.302/303.
[239] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.307-309.
[240] Voegelin, Anamnesis, S.309.
[241] Voegelin, Anamnesis, S.310.
[242] Voegelin, Anamnesis, S.313.