Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
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Nach der bisherigen, sehr ins Detail gehenden Erörterung von Voegelins Bewußtseinsphilosophie soll nun auf einer wiederum etwas allgemeineren Ebene eine Gesamtbilanz dessen gezogen werden, was Voegelin mit seiner Bewußtseinsphilosophie erreicht hat. Dazu empfiehlt es sich, zunächst noch einmal in aller Kürze Voegelins Modell politischer Ordnung zusammenzufassen, und dann zu klären, ob aus Voegelins Bewußtseinsphilosophie heraus die Fragen, die zur Begründung dieses Modells hätten geklärt werden müssen, überzeugend beantwortet werden können.
Voegelins Modell politischer Ordnung läßt sich in der allerknappsten Form wie folgt zusammenfassen: Politische Ordnung beruht auf der existenziellen Grundkonstitution des Menschen. Diese existenzielle Grundkonstitution besteht in der Spannung zum transzendenten Seinsgrund. Das Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund wird dem Menschen durch mystische Erfahrung vermittelt. Die politische Ordnung muß aus diesem Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund heraus gestaltet werden. Dann, und nur dann, kann eine gute und dauerhafte politische Ordnung entstehen. Ohne auf die weiteren Einzelheiten der historischen Entwicklung der Ordnungserfahrung und der Ursachen politischer Unordnung näher einzugehen, kann bereits an dieser Stelle eine Reihe von Fragen formuliert werden, die als Prüfstein der Begründungsqualität von Voegelins Modell politischer Ordnung dienen können:
Die erste und wichtigste Frage, die sich stellt, ist die, ob es einen transzendenten Seinsgrund überhaupt gibt. Wenn behauptet wird, daß der Mensch in der Spannung zum Seinsgrund existiert, dann sollte ein solcher transzendenter Seinsgrund selbstverständlich auch vorhanden und aufweisbar sein. Zur Begründung der Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes beruft sich Voegelin auf die mystische Erfahrung. Diese Begründung bleibt nicht zuletzt deshalb recht dürftig, weil Voegelin nie genau klärt, was mystische Erfahrungen sind, und wie man sie machen kann. Über das Wesen mystischer Erfahrungen wird im nächsten Kapitel noch einiges zu sagen sein. Aber bereits unabhängig davon, was mystische Erfahrungen nun eigentlich sind und ob es sich tatsächlich um Erfahrungen von etwas Transzendentem handelt, werfen sie eine Vielzahl von Fragen auf. So stellt sich z.B. die Frage, wie zwischen richtigen und falschen Erfahrungen unterschieden werden kann. Diese Frage ist besonders deshalb prekär, weil offenbar gar nicht jeder Mensch mystische Erfahrungen hat. Wie kann aber die mystische Erfahrung des einen Menschen für einen anderen maßgeblich sein? Voegelin antwortet, daß alle anderen Menschen zum Zuhören verpflichtet sind, wenn einem Propheten oder Philosophen eine Erleuchtung zuteil wird.[364] Aber wie können diese Menschen, die selbst keine Erleuchtung hatten, zwischen echten und falschen Propheten unterscheiden. Dieses Problem hat bereits Thomas Hobbes aufgeworfen, und Hobbes weist auch zu Recht darauf hin, daß die Weigerung, einem Propheten zu folgen, niemandem als Verstocktheit ausgelegt werden darf, denn der Betreffende leugnet durch diese Weigerung nicht Gott, sondern er zweifelt lediglich die Glaubwürdigkeit eines Menschen an.[365] Voegelin besteht dagegen darauf, daß echte Transzendenzerfahrungen eines Menschen für alle Menschen autoritativ sind, aber er zeigt nicht, wie dies möglich sein kann, wenn es doch kein Mittel gibt, um ihre Echtheit zu prüfen.[366]
Mit diesen die Echtheit der Transzendenzerfahrungen betreffenden Fragen sind die Probleme von Voegelins Konzeption jedoch noch keineswegs erschöpft. Nicht weniger problematisch sind die Zusammenhänge zwischen der mystischen Erfahrung und der konkreten politischen Ordnung. Am auffälligsten erscheint hierbei, daß zwischen diesen beiden Bereichen augenscheinlich überhaupt kein Zusammenhang besteht. Wenn die mystische Erfahrung, so wie Voegelin dies unablässig beteuert, eine unerläßliche Grundlage guter politischer Ordnung ist, so müßte es doch möglich sein, aus der mystischen Erfahrung heraus Kriterien zu formulieren, die es erlauben, irgend ein konkretes Ensemble politischer Institutionen zu berurteilen. Warum sind die Institutionen der amerikanischen Demokratie eher mit der Noese zu vereinbaren als die Institutionen eines faschistischen Staates wie Spanien unter der Herrschaft Francos? Es dürfte sehr schwer fallen, hier aus Voegelins metaphysischer Theorie heraus ein Urteil zu fällen. Zwar hat Voegelin es nicht an (oft sehr einseitigen) politischen Lagebeurteilungen fehlen lassen, aber selten wird dabei deutlich, wie diese sich aus den Grundsätzen seiner politischen Philosophie ergeben. Voegelin hat noch nicht einmal versucht, aus der Noese irgendwelche moralischen Prinzipien oder Tugenden herzuleiten. Dergleichen wäre ihm wohlmöglich bereits als dogmatische Entgleisung erschienen.[367] Aber wie kann mit Hilfe der Noese die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit gestaltet werden, wenn es noch nicht einmal möglich ist, bestimmte sittliche Prinzipien aus der Noese abzuleiten?
Vor allem aber stellt sich die Frage, woraus hervorgeht, daß eine auf die Noese gegründete Politik moralisch gut und den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens angemessen ist. Sofern das moralisch Gute nicht gerade durch die Noese definiert wird, was zu einer Tautologie führen würde, ist es keineswegs selbstverständlich, daß das noetisch Wahre mit dem moralisch Guten zusammenfällt. Umgekehrt liefert Voegelin keinerlei stichhaltige Gründe für seine These, daß eine gute politische Ordnung ohne die Noese ausgeschlossen ist. Voegelin scheint hier die anthropologische Annahme zu Grunde zu legen, daß ein Mensch, dessen Existenz nicht durch das noetische Wissen oder eine kompakte Vorstufe desselben geordnet ist, notwendigerweise ein Chaot sein muß. Aber Voegelin unternimmt keinen ernsthaften Versuch, die Richtigkeit dieser willkürlichen und gegenüber ungläubigen Menschen auch sehr ungerechten Annahme zu demonstrieren.
All die soeben aufgeworfenen Fragen sind nun nicht bloß irgendwelche Einzelfragen, die sich im Rahmen von Voegelins politischer Theorie nebenbei auch noch stellen. Vielmehr handelt es sich um Fundamentalprobleme, mit deren Lösung der gesamte Ansatz von Voegelin steht und fällt. Die Tatsache, daß Voegelin auf keine dieser Fragen auch nur eine halbwegs schlüssige Antwort geben kann, erlaubt daher nur eine einzige Schlußfolgerung: Voegelin ist mit seinem Versuch, die Voraussetzungen politischer Ordnung bewußtseinsphilosophisch zu begründen, auf der ganzen Linie gescheitert.
[364] Vgl. Voegelin, Order and History II, S.6.
[365] Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1998 (erste Auflage 1984), S.51 (7.Kapitel) / S.218-219 (26.Kapitel).
[366] Nicht daß Voegelin diese Probleme nicht bemerkt hätte, aber er weicht einer Antwort in der Regel durch Weitschweifigkeit oder stillschweigenden Themawechsel aus. (Vgl. Voegelin, Order and History III, S.299-303.) - Noch unzulänglicher: Voegelin, Order and History V, S.26. - Ebenfalls unbefriedigend: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O'Connor), Montreal 1980, S.23/24.
[367] Siehe dazu die Naturrechtskritik, die Voegelin unter Rückgriff auf Aristoteles' Begriff der phronesis in seinem Aufsatz „Das Rechte von Natur“ übt. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.128.) - Zur ethischen Theorie Voegelins vgl. Julian Nida-Rümelin: Das Begründungsproblem bei Eric Voegelin. (Typoskript eines Vortrages beim Internationalen Eric-Voegelin Symposium in München August 1998, Eric Voegelin-Archiv in München).