Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
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In seinen bewußtseinsphilosophischen Schriften beruft Voegelin sich immer wieder auf Transzendenzerfahrungen. Leider versäumt Voegelin dabei zu klären, was Transzendenzerfahrungen sind, wie man sie erlangen kann, und ob sie ihren Namen zu Recht tragen. Will man sich über diesen Zentralbegriff der Voegelinschen Philosophie Rechenschaft ablegen, so bleibt kein anderer Ausweg, als ein wenig über das Wesen dieser Erfahrungen zu spekulieren, indem man verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Erklärung gedanklich durchspielt. Im Wesentlichen sind drei Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen: 1.Es gibt tatsächlich Transzendenzerfahrungen, aber sie sind nur wenigen auserwählten Individuen zugänglich. 2.Hinter den Transzendenzerfahrungen verbergen sich bestimmte innere Erlebnisse, die jeder Mensch wenigstens gelegentlich hat. Nur messen verschiedene Menschen diesen Erlebnissen eine unterschiedliche Bedeutung für ihr Leben bei. 3.Es gibt keine Transzendenzerfahrungen und alles, was über sie gesagt wird, ist lediglich leeres Gerede. Diese drei grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten sollen nun im Einzelnen etwas näher beleuchtet werden.
1.Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen in Form von Erleuchtungen einzelner Individuen. Denkbar ist, daß es sich bei den Transzendenzerfahrungen um besondere Erlebnisse handelt, die nur einzelnen Menschen widerfahren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Erlebnisse tatsächlich die Folge des Eindringens eines transzendenten Seins in die Immanenz sind, oder ob es sich dabei bloß um ein psychisches Phänomen ähnlich einer Geisteskrankheit handelt. Die erste Variante ist eher unwahrscheinlich, da es für die Existenz einer transzendenten Seinsphäre keine anderen Anhaltspunkte gibt als eben diese Erfahrungen, die einer Geisteskrankheit oder einem Drogenrausch zum Verwechseln ähnlich sehen.[368] Aber selbst, wenn es sich um „echte“ Transzendenzerfahrungen handeln sollte, steht auf Grund des schon erwähnten Problems der wahren und falschen Propheten außer Zweifel, daß diese Erfahrungen außer für den, dem sie widerfahren, für niemanden Autorität beanspruchen können. Ob Voegelin so interpretiert werden muß, daß die Transzendenzerfahrungen nur wenigen privilegierten Individuen zukommen, läßt sich nicht eindeutig bestimmen. Voegelins historischer Ansatz, nach welchem die „Seinssprünge“ zunächst als Erleuchtungsereignisse in einzelnen Individuen stattfinden, legt diese Interpretation nahe.[369] Dem steht jedoch Voegelins bewußtseinsphilosophischer Ansatz entgegen, der, gerade weil dabei das Bewußtsein des Menschen untersucht wird, beinhaltet, daß die Transzendenzerfahrungen jedem Menschen zugänglich sind, wenn es auch von Mensch zu Mensch Unterschiede in der Intensität der Erfahrung geben kann.
2.Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als innere Erlebnisse. Es könnte auch der Fall sein, daß es sich bei den Transzendenzerfahrungen, die Voegelin meint, um innere Empfindungen und Erlebnisse handelt, welche im Seelenleben eines jeden Menschen vorfindlich sind, auch wenn diesen Empfindungen im bewußten Denken und Handeln nicht immer eine gleichermaßen bedeutsame Rolle eingeräumt wird. Zu diesen inneren Empfindungen gehören vermutlich alle Arten von Gefühlserlebnissen, die aus dem Alltäglichen herausfallen, eine deutliche emotionale Besetzung aufweisen und entweder nicht unmittelbar einem äußeren Anlaß zugerechnet werden können oder durch ihre Intensität über diesen Anlaß hinauszuweisen scheinen. Dazu könnten beispielsweise Erinnerungen, Träume, Tagträume, Drogenerlebnisse, Sex, bestimmte durch Kunst (und insbesondere durch die Musik) hervorgerufene Empfindungen sowie sich plötzlich einstellende und scheinbar grundlose Gefühle von großer Angst oder Freude zählen. Der Versuch, den Bereich der für Transzendenzerfahrungen in Frage kommenden seelischen Erlebnisse näher einzugrenzen, begegnet nicht zuletzt deshalb großen Schwierigkeiten, weil es auch eine Frage des Temperamentes ist, ob jemand sagt: „Ich habe eben ein wenig vor mich hingeträumt“, oder ob er erklärt: „Ich habe soeben in der Meditation für einige Sekunden das Eindringen der Transzendenz in mein Bewußtsein erfahren“, oder ob jemand mitteilt: „Ich hatte plötzlich ein unerklärliches Angstgefühl“, oder stattdessen vielmehr behauptet: „Mir sind gerade die Schauer des Numinosen über den Rücken gelaufen.“ Damit soll nicht gesagt werden, daß die jeweils letztere Form, die entsprechende Erfahrung in Worte zu fassen, reine Hochstapelei ist. Es ist nur der Tatbestand festzuhalten, daß derartige Erfahrungen nicht aus sich selbst heraus ihr Wesen offenbaren, sondern daß dies erst die Folge einer menschlichen Deutung ist.
Nun spricht nichts dagegen, das eigene Leben im Zeichen irgendwelcher dieser Erfahrungen zu führen, sofern man das Gefühl hat, daß dadurch das Leben intensiver wird oder einen höheren Wert bekommt. Auch mag es für den Seelenhaushalt von großer Wichtigkeit sein, auf derartige Erfahrungen achtzugeben. Aber gegenüber Voegelins Deutung muß, sofern er diese Art von Erfahrungen meint, zweierlei festgehalten werden: Erstens können derartige Erfahrungen zwar Sinn und Wert vermitteln, nicht jedoch Wahrheit. Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von etwas Gemeintem mit der Wirklichkeit. Wahrheit kommt nicht bereits dadurch zustande, daß etwas als wahr empfunden oder als höchst real erfahren wird, denn auch Irrtümer werden, solange man von ihnen überzeugt ist, als wahr empfunden. Grundsätzlich sind innere Erfahrungen, Evidenzerlebnisse oder Erleuchtungen niemals eine unmittelbare Quelle von Wahrheit, sondern bestenfalls eine Quelle von Ideen, über deren Richtigkeit erst eine sorgfältige Prüfung in einem nüchterneren Seelenzustand befinden muß. Zu den Wesensmerkmalen von Wahrheit gehört ihre Objektivität oder zumindest Intersubjektivität. Gerade dies ist jedoch für die in Frage stehenden Erfahrungen nicht gegeben, welche zunächst einmal höchst individuelle und persönliche Erfahrungen sind. Daraus, daß diese Erfahrungen nur eine Meinung oder ein Wertempfinden aber nicht zwangsläufig Wahrheit vermitteln, ergeben sich zwei gewichtige Konsequenzen: Zum einen sind Konflikte mit der Realität keineswegs ausgeschlossen, so daß es sehr voreilig ist, die Realität der inneren seelischen Erfahrungen mit der Realität schlechthin gleichzusetzen. Zum anderen kann aus der Erfahrung kein Gehorsamsanspruch abgeleitet werden, da dieser Art der Erfahrung die objektive Gültigkeit fehlt. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Erfahrungen eines Einzelnen auf der Basis freiwilliger Anerkennung für andere Bedeutsamkeit erlangen können. Zudem kann sich ein Gehorsamsanspruch immer noch dann ergeben, wenn das Erfahrene aus anderen Gründen diesen Anspruch rechtfertigt. (Beispiel: Einem Propheten geht im Rahmen einer göttlichen Vision ein moralisches Gesetz auf, welches sich auch bei nüchterner Betrachtung und unter Abwägung aller Eventualitäten als gültig erweist.)
Zweitens muß gegenüber Voegelin festgehalten werden, daß jene emphatischen seelischen Erlebnisse - trotz gelegentlicher überraschender Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichen Individuen - im Ganzen von einer solch irregulären Vielfalt sind, daß es unmöglich ist, sie allesamt auf eine Normerfahrung der existenziellen Spannung zum Grund zu beziehen. Manch einer empfindet eine existenzielle Spannung zum Grund, ein anderer wiederum fühlt sich eins mit dem Universum. Dies sind zwei verschiedene Erfahrungen. Der Versuch, alle Erfahrungen je nach ihrer Nähe zur Normerfahrung der existenziellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund in kompaktere und differenziertere Erfahrungen einzuteilen und so zwischen ihnen eine Rangfolge herzustellen, dürfte höchstens für sehr nahe verwandte Erfahrungen durchführbar sein.
3.Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als soziales Artefakt. Als letzte Möglichkeit muß in Erwägung gezogen werden, daß es Transzendenzerfahrungen überhaupt nicht gibt, und daß auch nicht jene eben beschriebenen außergewöhnliche Seelenzustände damit gemeint sind, sondern daß es sich vielmehr um Einbildungen oder besser um soziale Artefakte handelt, die bloß geglaubt werden, weil so viele Menschen davon reden, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Der gesellschaftliche Mechanismus, der zu diesen Artefakten führt, wird sehr treffend durch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern veranschaulicht, in welchem bekanntlich ein ganzer Hofstaat in den höchsten Tönen die Farbenpracht der Gewänder eines splitternackten Kaisers preist. Darauf, daß bei Voegelin die vermeintlichen Transzendenzerfahrungen nur ein solches Kunstprodukt der Einbildungskraft unter dem Einfluß der eifrigen Lektüre religiösen Schrifttums sind, deutet die auffällige Tatsache hin, daß Voegelin niemals von einer eigenen Transzendenzerfahrung berichtet. Immer nur wird auf Platon, Aristoteles, den heiligen Thomas von Aquin, die Bibel und auf andere ehrwürdige Schriftstücke verwiesen, von denen Voegelin versichtert, daß sie Ausdruck von Transzendenzerfahrungen seien. Einen Bericht von eigenen Transzendenzerfahrungen liefert Voegelin nicht. Stattdessen müssen Kindheitserinnerungen als Lückenbüßer herhalten. Doch dies wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch Voegelins, die Transzendenzerfahrungen, an deren Wirklichkeit er so gerne glauben wollte, in irgend einer Weise auch bei sich selbst vorzufinden. Ohne eigene Transzendenzerfahrungen aber wird Voegelins Behauptung, daß sich die Richtigkeit der politischen Philosophien, die er befürwortete, „empirisch“ überprüfen ließe, vollends unglaubwürdig.[370]
Von den eben aufgeführten drei Deutungsmöglichkeiten erscheint - auch wenn es sich nicht mit Sicherheit sagen läßt - die zweite Deutungsmöglichkeit als die naheliegendste, da die erste Möglichkeit allzu unwahrscheinlich ist, und man andererseits auch ungern glauben möchte, daß jemand den größten Teil seines Lebenswerkes auf eine Illusion stützt. Von welcher Deutungsmöglichkeit man auch ausgeht, in keinem Fall lassen sich die weitreichenden Konsequenzen rechtfertigen, die Voegelin für die politische Ordnung und für die Politikwissenschaft aus den Transzendenzerfahrungen ziehen möchte.
[368] Vgl. William James: The Varieties of Religious Experience, Cambridge, Massachusetts / London, England 1985 (zuerst 1902), S.11-28.
[369] Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O'Connor), Montreal 1980, S.25. - Bereits in den „politischen Religionen“ schreibt Voegelin: „Die Erneuerung kann in großem Maße nur von großen religiösen Persönlichkeiten ausgehen - aber jedem ist es möglich, bereit zu sein und das seine zu tun, um den Boden zu bereiten, aus dem sich der Widerstand gegen das Böse erhebt.“ (Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938), S.6.)
[370] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.96.