Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
    3.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
    3.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    3.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
    3.4 „Was ist politische Realität?“
        3.4.1 Naturwissenschaft und Politikwissenschaft
        3.4.2 Voegelins Begriff der Realität
        3.4.3 Kritik von Voegelins Realitätsbegriff
        3.4.4 Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes
        3.4.5 Kritik von Voegelins Sprachtheorie
        3.4.6 Die Stufen des Ordnungswissens
        3.4.7 Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deutung
        3.4.8 Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik
        3.4.9 Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus
        3.4.10 „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen
        3.4.11 Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen
        3.4.12 Fazit
    3.5 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

3.4 „Was ist politische Realität?“

Der Aufsatz „Was ist politische Realität?“, mit dem Voegelin sein Werk „Anamnesis“ beschließt, stellt eine umfassende Grundsatzarbeitet über das Wesen politischer Realität und die Grundlagen einer diese Realität adäquat beschreibenden Politikwissenschaft dar. Der Aufbau und die Argumentation des Aufsatzes sind einigermaßen verwickelt, denn obwohl Voegelin im Vorwort zu „Anamnesis“ diesem Aufsatz „eine umfassende und vorerst befriedigende Neuformulierung der Philosophie des Bewußtseins“[206] attestiert, verraten häufige Wiederholungen, begriffliche Unklarheiten und gelegentliche Selbstkorrekturen innerhalb des Aufsatzes, daß sich Voegelin seiner Sache keineswegs sicher war. Daher gebe ich zunächt eine kurze Übersicht über die wichtigsten Themenkomplexe, die sich aus Voegelins Aufsatz extrahieren lassen, bevor dessen Inhalt im Einzelnen dargestellt und kritisiert wird.

Der wohl wichtigste Themenkomplex dieses Aufsatzes bezieht sich auf den Begriff der Realität. „Realität“ ist bei Voegelin ein Inbegriff absoluter metaphysischer Wahrheiten, die die Welt im Ganzen und die Stellung des Menschen in der Welt betreffen. Das Wissen um diese metaphyischen Wahrheiten („Ordnungswissen“) wird dem Menschen durch ein inneres Gefühl („Ordnungserfahrung“) vermittelt. Eine politische Ordnung kann nur dann eine gute politische Ordnung sein, wenn sie sich auf dieses Ordnungswissen gründet.

Der zweite Themenkomplex betrifft Voegelins sprachphilosophische Ausführungen. Voegelin war der Ansicht, daß die Wörter, mit denen die Ordnungserfahrung artikuliert wird, sich nicht wie gewöhnliche Wörter auf etwas Gegebenes beziehen, das ihre Bedeutung ist, sondern daß sie „Indizes“ sind, die etwas über die innere Verfassung und über besondere Erfahrungen des Bewußtseins vermelden.

Der dritte Themenkomplex behandelt die Beziehungen, die zwischen unterschiedlich niveauvollen Formen des Ordnungswissens bestehen. Voegelin zufolge können die Ordnungserfahrungen in einzelnen Fällen klarer oder weniger klar und damit das ihnen korrespondierende Ordnungswissen niveauvoller („differenzierter“) oder weniger niveauvoll („kompakter“) sein. Dennoch betreffen sie stets dieselbe Realität. Voegelin glaubt, daß es eine geschichtliche Entwicklung von kompakterem zu immer differenzierterem „Ordnungswissen“ gibt.

Der vierte Themenkomplex bezieht sich auf den Verlust und das tragische In-Vergessenheit-Geraten des Ordnungswissens. Voegelin unterscheidet nicht nur zwischen kompaktem und differenziertem Ordnungswissen, sondern auch zwischen Philosophien, die überhaupt Ausdruck von Ordnungserfahrungen sind, und solchen Philosophien, die lediglich aus dogmatischer Begriffsklauberei und leerer Spekulation bestehen. Zwar bleibt die Realität immer dieselbe, aber sie kann in Vergessenheit geraten und das Ordnungswissen schlimmstenfalls durch Ideologien verdrängt werden. Voegelin bezeichnet dieses Phänomen als „Realitätsverlust“, und er hält es für die Ursache von politischen Katastrophen wie z.B. den Totalitarismus.

[206] Voegelin, Anamnesis, S.8.

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