Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
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Die Theorie der sprachlichen Indizes beschreibt die sprachlichen Eigentümlichkeiten der verbalen Wiedergabe noetischer Erfahrungen. Es geht dabei um das Problem, die Besonderheit noetischer Beschreibungen zu erfassen, denn rein äußerlich unterscheidet sich die sprachliche Wiedergabe echter noetischer Erfahrungen durch nichts von der Sprache dogmatischer Metaphysik. Außerdem versucht Voegelin, mit seiner Theorie der sprachlichen Indizes seinen eigenen philosophischen Sprachgebrauch zu rechtfertigen und insbesondere das Definitionsrecht bestimmter Begriffe (Welt, Mensch, Geschichte etc.) für sich zu reklamieren.
Voegelin beginnt zunächst mit einer knappen Zusammenfassung der wichtigsten Züge seines Realitätsbegriffes. Daran anknüpfend stellt er seine Theorie der sprachlichen Indizes als eines Ausdruckes der (noetischen) Erfahrungen dieser Realität vor. Schließlich zieht Voegelin aus dieser Theorie eine Reihe von Schlußfolgerungen in Bezug auf die Politikwissenschaft, die menschliche Natur und die Deutung der Geschichte.
Realität ist eine komplexe Beziehung, von Mensch, Dingen und Seinsgrund. Diese Beziehung wird vom Menschen nicht beobachtet, sondern „ `von innen' “[253] erfahren. Ungeachtet dessen bleiben der Mensch und sein Leben jedoch in äußere Zusammenhäge eingordnet. Der Seinsgrund ragt durch das Bewußtsein des Menschen in die Welt hinein, aber der Mensch kann sich nicht durch das bewußte Partizipieren am Seinsgrund über die Welt hinausheben. (Voegelin baut hier dem gnostischen Mißverständnis der Möglichkeit einer Erlösung durch Wissen vor.) In der Erfahrung des Partizipierens gewinnen wir, Voegelin zufolge, gültige „Einsichten“ nicht nur in das Partizipieren selbst, sondern auch in die Termini des Partizipierens, also beispielsweise in das Wesen des Menschen und den Seinsgrund. Noetisches Wissen ist der unmittelbar den „Bewegungen“ des Partizipierens entspringende Ausdruck dieser Einsichten.[254]
An diesem Punkt führt Voegelin seine Theorie der sprachlichen Indizes ein. Voegelin greift für diese Theorie eine Denkfigur auf, die er bereits in seinem Aufsatz über die Struktur des Bewußtseins entwickelt hat, in welchem er die These vertritt, daß das Bewußtsein nicht zeitlich sondern durch Erhellungsdimensionen strukturiert sei, die dann als „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sprachlich gekennzeichnet oder, wie Voegelin nun sagen würde, indiziert werden.[255] Die Theorie der Indizes besagt, daß die sprachlichen Ausdrücke, mit denen die noetischen Erfahrungen artikuliert werden, nicht gegenständlich als Aussagen über etwas sondern als Kennzeichnung von inneren Erfahrungen bzw. Erlebnissen verstanden werden müssen. Dies gilt, obwohl diese sprachlichen Ausdrücke ihrer äußeren Form nach gegenstandsförmlich sind. So wäre also etwa der Satz: „In der noetischen Erfahrung dringt der transzendente Seinsgrund in das Bewußtsein ein“ nicht als Aussage über das transzendente Sein und das menschliche Bewußtsein zu verstehen, sondern als Kennzeichnung einer inneren Erfahrung des Eindringens, die offenbar von solcher Intensität und Eigenart ist, daß zu ihrem angemessenen Ausdruck vom „Eindringen des transzendenten Seins“ gesprochen werden muß. Warum aber müssen die noetischen Erfahrungen überhaupt gegenständlich ausgedrückt werden, wenn dies doch so mißverständlich ist? Voegelin glaubt, daß es zum gegenständlichen Ausdruck keine Alternative gibt, „weil das Bewußtsein gegenstandsförmlich ist“.[256]
Schwere Fehler und Mißverständnisse ergeben sich nach Voegelins Ansicht, wenn Ausdrücke, die Indizes von Bewußtseinserfahrungen sind, unabhängig von diesen Erfahrungen als Begriffe für etwas eigenständig Seiendes verwendet werden. Voegelin illustriert dies an einer Reihe von Beispielen. So gibt es für Voegelin „weder eine immanente Welt noch ein transzendentes Sein als Entitäten“,[257] vielmehr sind die Ausdrücke „immanent und „transzendent“ Indizes, welche Bereichen der Erfahrung zugeteilt werden. Nach Voegelins Überzeugung ist es daher unsinnig, über die Existenz von transzendentem oder immanentem Sein zu streiten. Weiterhin ist Voegelin der Ansicht, daß der Ausdruck Mensch wenigstens in bestimmter Hinsicht einen Index der Erfahrung darstellt, denn unter „Mensch“ ist auch „der immanente Pol der existenziellen Spannung zum Grund zu verstehen“.[258] Da außerdem nach Voegelins Ansicht auch der Ausdruck „Philosophie“ ein Index der Erfahrung ist, so glaubt Voegelin folgern zu können, daß es unmöglich ist, den Menschen im Rahmen einer philosophischen Anthropologie ausschließlich als welt-immanentes Wesen zu verstehen. In der Vernachlässigung dieses Grundsatzes in der Anthropologie erblickt Voegelin nicht bloß einen philosophischen Irrtum, wie er beim Nachdenken schon einmal unterlaufen könnte, sondern eine Form von Realitätsverlust.[259]
Aus der Theorie der sprachlichen Indizes folgt für Voegelin eine Reihe von Konsequenzen, die überwiegend bereits gewonnene Einsichten bekräftigen und vertiefen. Die erste Konsequenz ergibt sich hinsichtlich des Begriffes der Wissenschaft. „Wissenschaft“ ist für Voegelin ebenfalls ein Index. Sie entdeckt „sich selbst als das Strukturwissen von Realität, wenn die Selbsterhellung des Bewußtseins und seiner Ratio sich historisch ereignet“,[260] wobei in Erinnerung zu rufen ist, daß Voegelin unter „Ratio“ die zum Seinsgrund hin geöffnete Seele versteht und nicht etwa Vernunft oder Verstand im gewöhnlichen Sinne. Dieses historische Ereignis hat, Voegelin zufolge, bei Platon und Aristoteles stattgefunden, deren Noese „die Indizes Wissenschaft ( episteme) und Theorie (theoria) entwickelt hat.“[261] Selbst die moderne Naturwissenschaft verdankt nach Voegelins Ansicht ihren Wissenschaftscharakter weniger dem Erfolg ihrer Methoden als vielmehr der Tatsache, daß ihre Methoden mit der „Ratio der Noese verträglich sind.“[262] Erst die Noese legt nämlich die „Welt“, welche wiederum ein sprachlicher Index des Bewußtseins ist, als ein von mythischen und anderen Glaubenselementen gereinigtes Feld für die Bearbeitung durch die Naturwissenschaft frei.[263]
Um über Partizipationserfahrungen angemessen reden zu können, genügen allerdings nicht allein die sprachlichen Indizes, welche diese Erfahrungen selbst ausdrücken. Es ist darüber hinaus eine Art von Begriffen notwendig, mit denen über diese Erfahrungen gesprochen werden kann. Diese Begriffe bezeichnet Voegelin als Typenbegriffe. Als historische Beispiele für Typenbegriffe führt Voegelin die Ausdrücke „philodoxos“ und „sophistes“ von Platon und die Ausdrücke „philosophos“ und „philomythos“ von Aristoteles an. Unter seinen eigenen Begriffen rechnet Voegelin unter anderem die Begriffe der „kompakten und differenzierten Erfahrungen“ und der „noetischen und revelatorischen Transzendenzerfahrungen“ zu den Typenbegriffen.[264] Die Erforderlichkeit von Typenbegriffen wird besonders dann akut, wenn infolge geistesgeschichtlicher Differenzierungsprozesse die kompakteren Partizipationserfahrungen in eine Rolle realitiver Unwahrheit gedrängt werden, so daß ihr symbolischer Selbstausdruck nicht mehr zählt, und Begriffe gefunden werden müssen, um die kompakten Erfahrungen angemessen bezeichnen zu können.
Im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung von Partizipationserfahrungen kommt Voegelin auf das Problem der Beziehung des überindividuellen Prozesses der Geschichte zum individuellen Bewußtsein zu sprechen, welches nach Voegelins Auffassung durch seine Transzendenzerfahrungen der Träger dieses Prozesses ist. Für Voegelin gibt es Bewußtsein ausschließlich in der Form des konkreten Bewußtseins einzelner Individuen. Es ist „diskret real“.[265] Wie können aber die individuellen Transzendenzerfahrungen der vielen diskret realen Bewußtseine innerhalb eines sinnhaften historischen Prozesses oder Feldes der Geschichte verortet werden, von dessen Existenz Voegelin nach wie vor überzeugt ist?[266] Voegelin beantwortet diese Frage damit, daß in den Transzendenzerfahrungen der vielen Bewußtseine stets ein und derselbe transzendente Seinsgrund erfahren wird: „Geschichte wird zu einem strukturell verstehbaren Feld der Realität durch die Präsenz des einen Grundes, an dem alle Menschen partizipieren...“.[267] Keinesfalls kann dagegen die Geschichte (wie etwa bei Hegel) als die Entfaltung eines kollektiv-überindividuellen oder gar absoluten Bewußtseins verstanden werden, da hierbei vollkommen ignoriert wird, daß Bewußtsein nur als das Bewußtsein einzelner Menschen vorkommt.[268]
Schließlich weist Voegelin noch auf die problematischen Folgen hin, die aus dem unsachgemäßen Gebrauch von Typenbegriffen entstehen. Typenbegriffe dürfen, so scheint es Voegelin aufzufassen, legitimerweise nur dann eingesetzt werden, wenn ihr Gebrauch durch eine eigene noetische Erfahrung gedeckt ist, durch welche allein die weniger differenzierten Erfahrungen richtigerweise als Typen von relativ geringerem Wahrheitsgrad erkannt werden können. Dazu muß außerdem hinter jedem Typus die je eigene Erfahrungsgrundlage dieses Typus erkannt werden. (Voegelin greift hier auf das bereits in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ entwickelte Prinzip zurück, daß die Erfahrungen und nicht die Ideen „die Substanz der Geschichte“ bilden.) Die Vernachlässigung dieser Prinzipien führt nach Voegelins Ansicht zu unersprießlichen Dogmenstreitereien zwischen sich gegenseitig typisierend einordnenden Meinungen, die bis zum allgemeinen Ideologieverdacht ausarten können, ohne daß jemals die entscheidende Ebene der Transzendenzerfahrungen auch nur in den Blick gerät.[269] Voegelin gesteht sich nicht ein, daß seine Theorie auch nur eine weitere Position in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Theorien darstellt (was auch dann der Fall wäre, wenn sie tatsächlich und als einzige von allen Theorien wahr wäre), und daß er durch seine polemischen Ausfälle selbst nicht wenig zum allgemeinen Ideologieverdacht beiträgt.
[253] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.316.
[254] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.315-316.
[255] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.44.
[256] Voegelin, Anamnesis, S.316. - Unter Gegenstandsförmlichkeit versteht Voegelin, daß „Bewußtsein [..] immer Bewußtsein-von-Etwas ist“ (Anamnesis, S.307.). - (Sicherlich würde Voegelin nicht ausschließen, daß man auch in die mythische Ausdrucksweise zurückverfallen könnte, aber dabei würde ein weniger differenzierteres Ausdrucksniveau in Kauf genommen werden müssen.)
[257] Voegelin, Anamnesis, S.316.
[258] Voegelin, Anamnesis, S.317.
[259] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.316-317.
[260] Voegelin, Anamnesis, S.318. - Daß Wissenschaft ebenfalls ein Index sein soll, verblüfft auf den ersten Blick, denn Wissenschaft ist primär eine menschliche Tätigkeit und nicht etwas, das erfahren wird, so daß man zunächst geneigt ist, an dieser Stelle an einen Kategorienfehler Voegelins zu glauben. Aber Voegelin scheint offenbar ernsthaft die Ansicht vertreten zu wollen, daß Wissenschaft in erster Linie aus der Selbsterfahrung des wissenschaftlichen Denkens entsteht.
[261] Voegelin, Anamnesis, S.318.
[262] Voegelin, Anamnesis, S.318.
[263] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.318.
[264] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.319.
[265] Voegelin, Anamnesis, S.320.
[266] Auch nachdem Voegelin die Auffassung einer linearen Geschichtsentwicklung aufgegeben hat (Vgl. Eric Voegelin: Historiogenesis, in: Voegelin, Anamnesis, S.79-116.), hält er dennoch daran fest, daß das „Feld der Geschichte“ prozeßhaft geordnet ist. (Vgl. Eric Voegelin: Ewiges Sein in der Zeit, in: Voegelin, Anamnesis, S.254-280.)
[267] Voegelin, Anamnesis, S.320.
[268] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.320-321.
[269] Vgl. Voegelin, S.321-323.