Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
    4.1 Wahrscheinlichkeiten I: Rechentechniken
        4.1.1 Einführung
            4.1.1.1 Zielsetzung
            4.1.1.2 Was sind Wahrscheinlichkeiten?
        4.1.2 Grundlegende Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung
        4.1.3 Der Bayes'sche Lehrsatz
        4.1.4 Aufgaben
    4.2 Wahrscheinlichkeiten II: Interpretationsfragen nicht klausurrelevant!)
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

4.1.1.2 Was sind Wahrscheinlichkeiten?

Bevor aber auf das mathematische Kalkül der Wahrscheinlichkeitsrechnung eingegangen wird, ist zunächst etwas zu der Frage zu sagen, was Wahrscheinlichkeiten eigentlich sind. Es gibt drei Arten von Phänomenen, auf die man das Wahrscheinlichkeitskalkül anwenden kann:

  1. Häufigkeiten bei einer größeren Menge oder Folge von Ereignissen. So besagt die Aussage, dass ein 70-jähriger mit 3%-iger Wahrscheinlichkeit an Alzheimer leidet, nichts weiter, als dass eben unter den 70-jährigen die Alzheimerkrankheit mit einer Häufigkeit von 3% auftritt. (Jeder einzelne 70-jährige dagegen hat die Alzheimerkrankheit oder auch nicht. Aber kein 70-jähriger hat 3% Alzheimer.) Die Wahrscheinlichkeitsaussage bezieht sich in diesem Fall also nur auf die Häufigkeit eines Zustands in einer Gesamtheit.
     
  2. Glaubensgrade oder auch „subjektive Wahrscheinlichkeiten“: Wenn eine Ärztin einen Patienten dem oben beschriebenen Gedächsnistest unterzogen hat, und nun (mit Hilfe des Bayes'schen Lehrsatzes) die korrekte Wahrscheinlichkeit berechnet hat, mit der der Patient an Alzheimer erkrankt ist, dann wird sie oder er genau in dem Grad davon überzeugt sein, dass der Patient an Alzheimer leidet, der dieser Wahrscheinlichkeit entspricht. Wiederum gilt: Der Patient hat entweder Alzheimer oder kein Alzheimer. Die Wahrscheinlichkeit sagt bei genauer Auslegung nur etwas darüber aus, bis zu welchem Grad man davon ausgehen muss, dass eine Alzheimererkrankung vorliegt.
     
  3. Objektive Wahrscheinlichkeiten (Propensitäten): Die Wahrscheinlichkeit kann aber auch die inhärente Eigenschaft eines einzelnen Vorgangs beschreiben. So hat die Wahrscheinlichkeit, beim Würfeln eine Sechs zu würfeln, offensichtlich etwas mit dem symmetrischen Aufbau des Würfels zu tun. Man kann die Wahrscheinlichkeit, eine Sechs zu würfeln, daher als eine objektive Eigenschaft des Vorgangs eines Würfelwurfs betrachten.[50]

Die Tatsache, dass man auf alle drei Klassen von Phänomenen ein- und dasselbe wahrscheinlichkeitstheoretische Kalkül anwendet - zudem es übrigens, sofern man seine Anwendung auf den entsprechenden empirischen Phänomenbereich überhaupt zugesteht, keine Alternative gibt - darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich - empirisch betrachtet - um sehr unterschiedliche Phänomene handelt. Das gilt trotz der Tatsache, dass die Interpretation, um welche Art von (empirischer) Wahrscheinlichkeit es sich handelt, nicht in jedem Fall eindeutig oder zwingend ist. So kann man die Wahrscheinlichkeit, beim Würfeln eine Sechs zu würfeln statt als Propensität des Systems „Würfel“ auch als Häufigkeit verstehen, mit der bei einer großen Anzahl von Würfen die Sechs auftritt.

[50] Dagegen könnte eingewandt werden, dass beim Würfeln als einem nach der klassischen Mechanik streng deterministisch zu beschreibenden Vorgang das Ergebnis schon vorherbestimmt ist, so dass man nicht im wörtlichen Sinne von einer „objektiven Wahrscheinlichkeit“ seines Eintretens sprechen könne. Da es aber andererseits noch nie jemanden gelungen ist, Würfelwürfe tatsächlich vorherzusagen, so spricht - ungeachtet der Beschreibung des Systems durch eine deterministische Theorie - nichts dagegen, den Ausgang des Würfelwurfs als objektiv zufällig zu betrachten. Mit dieser Interpretation folge ich der (allerdings etwas umstrittenen) Theorie von Nancy Cartwright, der zufolge (natur-)wissenschaftliche Theorien nur bei den Vorgängen überhaupt gültig sind, an denen man sie auch nachweisen kann (Cartwright 1999).

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