Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
        3.2.1 Der Satz von Arrow als Widerlegung der „identären“ Demokratie
            3.2.1.1 Die „Identitätstheorie der Demokratie“
            3.2.1.2 Die Frage der Durchschlagskraft der auf den Satz von Arrow gestützten Kritik an der Identitätstheorie
            3.2.1.3 Eine „strukturelle Konzeption kollektiver Rationalität“ als Alternative?
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

3.2.1.1 Die „Identitätstheorie der Demokratie“

Es ist immer ein wenig schwierig einzuschätzen, worin das vortheoretische Verständnis von etwas, also z.B. das vortheoretische Verständnis von Demokratie besteht. Nach einem sehr naiven Verständnis, das unmittelbar an die Wortbedeutung anknüpft,[38] ist Demokratie schlicht die Herrschaft des Volkes, wobei mehr oder weniger offen bleibt, wie diese Herrschaft des Volkes auszusehen hat. Es ist naheliegend, aber keineswegs selbstverständlich, anzunehmen, dass die „Herrschaft des Volkes“ durch irgendeine Form von Mehrheitsentscheid ausgedrückt wird. Nimmt man das aber an, so könnten der Satz von Arrow und verwandte Theoreme möglicherweise Grenzen der „Identitätstheorie der Demokratie“ aufzeigen, sofern die durch den Satz von Arrow gezogenen Grenzen für die Aggregation individueller zu kollektiven Präferenzen sich als einschneidend genug erweist, um eine durch Mehrheitsentscheid zum Ausdruck gebrachte „Herrschaft des Volkes“ sinnlos werden zu lassen. Ob das der Fall ist, wird im Laufe des Kapitels noch zu erörtern sein. Dass es, wenn es der Fall ist, unabhängig vom Satz von Arrow auch noch andere und möglicherweise sehr viel wichtigere Gründe gibt, diese sehr naive Vorstellung von Demokratie abzulehnen (Sartori 1987, S. 29ff.), wird von Nida-Rümelin dabei zugestanden (Nida/Ruemelin 1991, S. 185) und braucht hier nicht thematisiert zu werden.

Fraglich ist allerdings, ob eine „Identitätstheorie der Demokratie“ nicht auch anders verstanden werden kann. Nida-Rümelin zufolge „bildet die Vorstellung einer Zusammenfassung individueller Interessen zu einem Gemeininteresse qua Abstimmungsverfahren den Kern der durch die französische Revolution geprägten Demokratiekonzeption“ (Nida/Ruemelin 1991, S. 191). Richtig ist sicherlich, dass die durch die französische Revolution geprägte Demokratietheorie das Element der Volkssouveränität vergleichsweise stärker gegenüber anderen Elementen betont wie etwa dem der Machtkontrolle als etwa die angelsächsische Tradition. Zugleich beruht diese sich sehr stark auf Jean-Jacques Rousseau als ihren Vordenker stützende Demokratiekonzeption auf einem Verständnis von Volkssouveränität, dem gerade nicht die „Zusammenfassung individueller Interessen zu einem Gemeininteresse“ zu Grunde liegt. Rousseau unterschied sehr genau zwischen der „volunté de tous“, dem Willen aller, der in etwa der aus den individuellen Präferenzen aggregierten kollektiven Präferenzrelation im theoretischen Rahmen der Sozialwahltheorie entsprechen würde, und der „volonté générale“, dem allgemeinen Willen, der das Gemeinwohl repräsentiert, und der bei Rousseau gerade nicht durch Aggregation von Einzelinteressen („volonté particulière“) entsteht, sondern so etwas wie das bessere Gewissen und den höheren Willen der Bürger verkörpert, soweit sie sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. Gegen Rousseaus Demokratietheorie gibt es viele Einwände (Schmidt 2000, S. 103ff.) - unter anderem wird ihr vorgeworfen, dass sie kollektivistisch sei - aber durch Argumente die sich auf den Satz von Arrow und verwandte Befunde der Sozialwahltheorie stützen könnten, ist die Rousseausche Variante einer Identitätstheorie - ebenso wie die meisten anderen kollektivistischen Gesellschaftstheorien - von vornherein nicht angreifbar. Sofern die auf den Satz von Arrow gestützte Kritik an demokratischen Abstimmungsverfahren überhaupt Stich hält, wäre - stark vereinfacht gesprochen - die angelsächsische Tradition der Demokratietheorie also stärker davon betroffen als die französische.

[38] Govanni Sartori nennt dieses sehr naive Verständnis von Demokratie deshalb auch „Etymologische Demokratie“ (Sartori 1987, S. 29ff.).

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