Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
    6.1 Spieltheorie I: Einführung
    6.2 Spieltheorie II: Vertiefung und Anwendung
        6.2.1 Nicht-Nullsummenspiele
        6.2.2 Wiederholte Spiele
        6.2.3 Evolutionäre Spieltheorie
            6.2.3.1 Evolutionäre Spieltheorie am Beispiel des wiederholten Gefangenendilemmas
            6.2.3.2 Die empirische Unanwendbarkeit spieltheoretischer Evolutionsmodelle
        6.2.4 Ein Anwendungsbeispiel der Spieltheorie, das funktioniert: Vertrauen bei Internetauktionen
        6.2.5 Aufgaben
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

6.2.3.2 Die empirische Unanwendbarkeit spieltheoretischer Evolutionsmodelle

Das Modell des wiederholten Gefangenendilemmas war lange Zeit (und ist möglicherweise immer noch) eines der beliebtesten Modelle der evolutionären Spieltheorie. Es sind Unmengen von Simulationstudien publiziert worden, die in der ein- oder anderen Form das wiederholte Gefangenendilemma durchspielen (Hoffmann 2000). Wie steht es aber um die empirische Anwendung dieser Modelle? Sucht man nach erfolgreichen Anwendungsbeispielen auch nur irgendeiner dieser Simulationsstudien, so stellt man schnell fest, dass sie praktisch nicht existieren. Etwas mehr als 10 Jahre nach der Publikation von Axelrod's Buch (Axelrod 1984) finden wir in der breit angelegten Meta-Studie eines Biologen (Dugatkin 1997), der den spieltheoretischen Ansatz sehr entschieden favorisiert, kein einziges greifbares Beispiel, das man ernsthaft als Bestätigung des Modells im empirischen Zusammenhang betrachten kann. Vor diesem Hintergrund muss es verwundern, wenn ein anderer Autor wiederum einige Jahre später in einem Forschungsbericht behauptet, dass es reichlich empirische Anwendungen des wiederholten Gefangenendilemmamodels in der Biologie gäbe (Hoffmann 2000). Der einzige Beleg, den er dafür anführt, ist eine Experimentalstudie aus den 80er Jahren (Milinski 1987), wobei ihm entgeht, dass diese Studie der darauf folgenden wisenschaftlichen Diskussion nicht standgehalten hat. So entstehen Legenden in der Wissenschaft

Wie kann es aber sein, dass es für ein Modell wie das des wiederholten Gefangenendilemmas, das in der Theorie so einleuchtend erscheint, kaum empirische Anwendungsbeispiele gibt. Um das zu verstehen muss man zwei unterschiedliche Niveaus der Anwendung von Modellen auf empirische Phänome unterscheiden. Die erste Stufe ist die des bloß metaphorischen Vergleichs. Die zweite und wichtigere Stufe ist die einer Anwendung im vollen Sinne, die mit einem Erklärungsanspruch verbunden ist.

Metaphorische Vergleiche lassen sich immer sehr leicht anstellen, und es ist nicht schwer im täglichen Leben, in der Wirtschaft, der Politik oder in der Natur etc. Vorgänge zu finden, die dem Modell des wiederholten Gefangenendilemmas irgendwie (!) ähneln. Aber bloß weil man irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen dem Modell und bestimmten empirischen Vorgängen feststellt, kann man noch nicht ernsthaft behaupten, dass das Modell diese Vorgänge erklärt, denn es ist ja sehr wohl möglich, dass die empirischen Vorgänge in der Wirklichkeit ganz andere Ursachen haben als die analogen Vorgänge im Modell.

Damit ein Modell tatsächlich als Erklärung eines Phänomens betrachtet werden kann, müssen weitere Voraussetzungen erfüllt werden. Zum Beispiel ist es erforderlich sämtliche Eingangs- und Ausgangsparameter des Modells empirisch zu messen. Nur wenn man alle Parameter messen kann und wenn die gemessenen Ausgangsparameter mit dem vom Modell aus den gemessenen Eingangsparametern errechneten Ergebnissen übereinsimmen, kann man behaupten, dass das Modell den in Frage stehenden Vorgang erklärt. Vor allem müssen die Parameter mindestens so genau gemessen werden können, dass das Modell innerhalb der Messungenauigkeiten einigermaßen stabile Ergebnisse liefert. Andernfalls wäre eine Übereinstimmung der gemessenen mit den errechneten Parametern nur zufällig.

Nun besteht bei vielen spieltheoretischen Modellen das Problem darin, dass sich die Auszahlungsparameter einfach nicht zuverlässig messen lassen. Ganz besonders gilt dies für das Modell des wiederholten Gefangenendilemmas, denn dieses Modell reagiert sensitiv auf Schwankungen der Eingangsparameter, d.h. welche Strategie sich evolutionär durchsetzt hängt sehr wesentlich unter anderem davon ab, welche Auszahlungsparamter man wählt. Eines der beliebtesten Standardbeispiele für die vermeintliche Logik der „Evolution der Kooperation“, das Wechselseitige Entlausen von Schimpansen („Grooming“), kann dieses Problem sehr anschaulich vor Augen führen. Um ihr Fell von Ungeziefer zu befreien, pflegen Schimpansen sich gegenseitig zu helfen. Die Entlausungssitzungen finden in der Regel in Paaren statt, wobei sich die Schimpansen abwechseln. Das Erscheinungsbild der Entlausungssitzungen legt die Annahme nahe, dass es sich dabei um ein evolutionär bedingtes reziprokes (also TitForTat-artiges) Kooperationsverhalten handelt. Dieses möglicherweise vorhandene reziproke Kooperationsverhalten ist natürlich noch durch andere Faktoren des Soziallebens von Schimpansen überlagert, so z.B. durch die Dominanzhierarchie unter den Tieren. Aber selbst wenn wir davon einmal absehen, stellt sich für die Anwendung unseres wiederholten Gefangenendilemmamodels ein unüberwindbares Problem: Wie soll man die Auszahlungsparameter messen? Da wir die fitness-relevante Auszahlung dieser Verhaltensweise im Modell voraussetzen, müssten wir, um das Model empirisch überprüfen zu können, irgendwie messen können, welche Auswirkungen ein wohlentlaustes Fell auf die Reproduktionsrate hat, und wir müssten auf der anderen Seite auch die Kosten (wiederum hinsichtlich der Reproduktionsrate) beziffern, die einem Affen entstehen, der einem anderen das Fell entlaust. Die Forschungen, die es in dieser Hinsicht tatsächlich gibt, sind bisher weit davon entfernt, die für die Überprüfung des wiederholten Gefangenendilemma- oder eines ähnlichen Modells erforderlichen Daten zu liefern. Und es ist sehr fraglich, ob dieses Ziel jemals erreicht werden kann.

Nun könnte man sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass auch eine metaphorische Verwendung des Modells immer noch eine Art von - allerdings sehr viel schwächerem - Erkenntnisgewinn darstellt. Das mag stimmen, nur ist ansichts des außerordentlich bescheidenen Erkenntnisziels eines bloßen metaphorischen Vergleichs der riesige Aufwand der für die Modellforschung getrieben wird, kaum noch vertretbar (Hammerstein 2003a). Insbesondere kann man nicht ernsthaft behaupten, dass durch die Untersuchung künstlich generierter Daten (von Computersimulationen) einen Beitrag zur Erforschung der Evolution von Kooperation geleistet werden kann, wenn man die Ergebnisse nicht auch einer empirischen Überprüfung unterzieht.

Aus heutiger Sich muss man das Modell des wiederholten Gefangenendilemmas daher wohl vor allem als ein weiteres beschämendes Beispiel wirklichkeitsfremder Modellforschung und der Verselbstständigung einer technisierten Methodik betrachten, wie sie leider in der Konsequenz des szientistischen Paradigmas liegt, d.h. der naiven Überzeugung echte Wissenschaftlichkeit zeichne sich vor allem durch den Gebrauch mathematischer und technischer Methoden aus, und als sei nicht vielmehr die Wahl der Methode nach dem Erkenntnisgegenstand zu richten und ihr Einsatz dem empirischen Erkenntniszweck der Wissenschaft strikt unterzuordnen.

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