Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
    4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
    4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
        4.2.1 Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“
        4.2.2 Kritik von Voegelins Theorie des Bewusstseins
    4.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“

4.2.1 Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“

In seinem Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“[162] legt sich Voegelin Rechenschaft über seinen eigenen philosophischen Standpunkt ab. Einleitend erklärt Voegelin, dass seine Aufzeichnungen die Ergebnisse anamnetischer Experimente enthielten, doch bezieht sich dies wohl eher auf die auf diesen Aufsatz folgenden Berichte von Kindheitserinnerungen. Der Aufsatz selbst zumindest besteht weit überwiegend aus theoretischer Diskussion.

Es fällt nicht leicht, die Thematik dieses Aufsatzes zu beschreiben, denn Voegelin reißt darin viele verschiedene Themen an. Den Hauptthemenschwerpunkt bildet eine Beschreibung der Struktur des Bewusstseins, seiner Beziehung zur Welt und eine Diskussion der Möglichkeiten des Bewusstseins dasjenige, was außerhalb des Bewusstseins liegt, zu erfahren und zu beschreiben. Daneben skizziert Voegelin umrisshaft eine ontologische Theorie und schließlich versucht Voegelin, nachdem er der Ontologie das Primat vor der Bewusstseinsphilosophie eingeräumt hat, das Auftreten der von ihm für falsch oder zu einseitig gehaltenen Bewusstseinsphilosophien historisch und wissenssoziologisch zu erklären.

Den Ausgangpunkt für Voegelins Überlegungen bildet eine Kritik der Theorien des Bewusstseins, die die Bewusstseinsstrommetapher in den Mittelpunkt ihrer Beschreibung stellen. Voegelin hält dies für eine falsche Akzentuierung: Zwar strömt das Bewusstsein auch, aber das Strömen ist weder der wesentliche noch ein alle anderen Bewusstseinsleistungen bedingender Faktor im Bewusstsein. Vor allem tritt das Strömen nur bei bestimmten Bewusstseinsvorgängen zu Tage wie etwa beim Hören von Tönen. Bei anderen Bewusstseinstätigkeiten - Voegelin beschreibt als Beispiel die inneren Vorgänge beim Betrachten eines Gemäldes - lässt sich das Strömen des Bewusstseins nur erfassen, wenn die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abgelenkt wird. Voegelin betrachtet es daher als eine Spekulation, wenn der Bewusstseinsstrom als die Grundform aller Bewusstseinsvorgänge aufgefasst wird.[163]

Nach Voegelins eigener Vorstellung vom Aufbau des Bewusstseins ist das Bewusstsein nicht durch zeitliches Fließen sondern thematisch durch Aufmerksamkeitszuwendung und -abwendung strukturiert. Voegelin nimmt an, dass es im Bewusstsein ein Aufmerksamkeitsquantum von nicht genau bestimmter aber beschränkter Größe gibt, welches verschiedenen Bereichen des Bewusstseins in mehr oder weniger starker Konzentration zugewandt werden kann. Im Bewusstsein gibt es nun zwei besonders ausgezeichnete Bereiche, Voegelin nennt sie „Erhellungsdimensionen“, denen bestimmte Formen der Aufmerksamkeitszuwendung, „Erinnerung“ und „Projektion“, entsprechen. Diese beiden Erhellungsdimensionen bezeichnet Voegelin daher passenderweise als „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Aus dem Zusammenspiel von Aufmerksamkeitszuwendung und den Erhellungsdimensionen „Vergangenheit“ und „Zukunft“ leitet sich die Vorstellung der (inneren wie äußeren) Zeit ab. Voegelin vertritt also, wie es scheint, eine idealistische Auffassung der Zeit, die derjenigen nicht unähnlich ist, die Augustinus als erster in den „Bekenntnissen“ dargelegt hat.[164] Da das Bewusstsein insgesamt endlich ist, so ist auch die Zeitvorstellung aus einem endlichen Vorgang abgeleitet. Dieser Vorgang ist der einzige wirkliche Prozess, von dem wir eine innere Erfahrung haben. Voegelin behauptet, dass dadurch der Bewusstseinsprozess „zum Modell des Prozesses überhaupt“[165] wird, und dass all unsere Begriffe von Prozessen nur von diesem einzigen uns zur Verfügung stehenden Modell abgezogen sind.[166] Infolge der Endlichkeit dieses Modells entstehen Ausdruckskonflikte bei der Beschreibung unendlicher Prozesse, wie sie außerhalb des Bewusstseins gelegentlich vorkommen können. Von diesen Ausdruckskonflikten rühren nach Voegelins Überzeugung auch die Kantischen Antinomien und die Paradoxe der Mengenlehre her.[167] Um unendliche Prozesse, die zwar erfahren bzw. erahnt aber nicht widerspruchsfrei beschrieben werden können, überhaupt in irgendeiner Weise zu artikulieren, ist es erforderlich, sich der geheimnisvollen Ausdrucksweise der Mythensymbolik zu bedienen. Den Begriff „Mythensymbol“ definiert Voegelin als ein „finites Symbol, das für einen transfiniten Prozess `transparent' sein soll.“[168] Eine genauere Eingrenzung, welches die unendlichen Prozesse sind, die des Ausdruckes durch die Mythensymbolik bedürfen, gibt Voegelin nicht an. Seine Beispiele legen nahe, dass es sich dabei um die Gegenstände handelt, die in der Religion zum welttranszendenten Bereich gerechnet werden. Als Beispiele dieses Gebrauchs der Mythensymbolik führt Voegelin nämlich einige allegorische Deutungen bekannter Mythensymbole an. So vermittelt etwa die unbefleckte Empfängnis „die Erfahrung eines transfiniten geistigen Anfangs“[169] . Voegelin versäumt es leider zu klären, wie ein transfiniter geistiger Anfang Gegenstand der Erfahrung werden kann, und ob es jemals einen Menschen gegeben hat, der etwas derartiges tatsächlich erfahren hat.

Ein größeres Problem im Zusammenhang mit der Mythensymbolik stellt die Frage der Adäquatheit des Mythos dar. Damit meint Voegelin die Frage, ob ein Mythos überhaupt eine Erfahrung ausdrückt, und ob er, wenn er es tut, die Erfahrung richtig zum Ausdruck bringt. Voegelin erläutert dieses Problem am Beispiel zweier Mythen bei Platon, dem von Platon bewusst als reines Propagandainstrument konzipierten Mythos der drei Metalle, die in Platons Dialog Politeia den drei Sozialklassen zugeordnet werden, und dem Mythos aus den Nomoi, in dem die Menschen von den Göttern als Marionetten an metallenen Fäden gelenkt werden.[170] Die beiden einzigen Kriterien, die Voegelin anführt, um den richtigen von dem von Platon bewusst konstruierten Mythos unabhängig von Platons eigener Mitteilung zu unterscheiden, sind: 1) Die Übereinstimmung mit Voegelins eigenen metaphysischen Überzeugungen, denn für Voegelin „finitisiert“ der zweite Mythos „im Marionettensymbol `adäquat' die Erfahrung von der Handlung im Schnittpunkt der Determinanten, die wir respektive `Ich' und `weltjenseitiges Sein' nennen“,[171] und 2) der emotionale Eindruck, indem der richtige Mythos „die `Schauer' der Transzendenz, das `Numinose' im Sinne Rudolf Ottos erregt.“[172] Beides sind, wie man unschwer erkennt, höchst subjektive Kriterien.

Im Zusammenhang mit der Mythensymbolik kommt Voegelin auch auf das Husserlsche Problem der „Konstitution der Intersubjektivität“ zu sprechen.[173] Dahinter verbirgt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass die Menschen außerhalb des eigenen Bewusstseins eigene Wesen mit einem eigenen Bewusstsein sind. Im philosophischen Gedankenexperiment ist es möglich, sich vorzustellen, dass die anderen Menschen - so wie Gestalten im Traume - nur Hirngespinste des eigenen Bewusstseins sind, oder dass sie „Zombies“ sind, die körperlich und von ihrem Verhalten her Menschen gleichen, in deren Gehirnen jedoch kein Bewusstsein lebt. Edmund Husserl hat zu zeigen versucht, dass das Ich bestimmte Objekte des Erfahrungsfeldes als „alter ego“ konstituieren kann.[174] Voegelin hält dies für ein reines Verwirrspiel. Seiner Ansicht nach existiert dieses philosophische Problem gar nicht, sondern es ist ein Faktum, dass das Bewusstsein die anderen Menschen als „Nebenbewußtsein“[175] erfährt. Übrig bleibt nur ein eher moralphilosophisches Problem, welches darin besteht, dieses „Erfahrungsfaktum“[176] so zum Ausdruck zu bringen, dass die Mitmenschen als gleichartig anerkannt werden können. Zur Behandlung dieses Problems greift Voegelin auf die Mythengeschichte zurück. Es ist nicht ganz klar, warum Voegelin es für notwendig erachtet, die Lösung im Rahmen der Mythensymbolik zu suchen. Bei den anderen Menschen handelt es sich schließlich auch nur um endliche Wesen, weshalb der zuvor beschriebene Ausdruckskonflikt nicht zum Tragen kommt. Zudem sind die anderen Menschen nicht welttranszendent, sondern nur in dem trivialen Sinne bewusstseinstranszendent, in dem auch Tiere und tote Gegenstände bewusstseinstranszendent sind, weil sie außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein ihres Betrachters eine Eigenexistenz haben. Um solche Feinheiten kümmert sich Voegelin jedoch nicht weiter. Der Mythengeschichte meint Voegelin nun entnehmen zu können, dass alle bisherigen Gleichheitsideen historisch auf die beiden Mythen der Abstammung aller Menschen von einer Mutter oder der geistigen Prägung durch ein und denselben Vater (Gottesebenbildlichkeit) zurückgeführt werden können.[177] Einen möglichen nicht-mythischen Ursprung bestimmter Gleichheitsideen zieht Voegelin gar nicht erst in Erwägung. Ja er versteigt sich sogar zu der kühnen Behauptung, dass die erkenntnistheoretischen Probleme der Intersubjektivität nur innerhalb dieses mythischen Rahmens behandelbar sind.[178] Seine Ausführungen zum mythengeschichtlichen Ursprung der Gleichheitsidee nimmt Voegelin zum Anlass für einen kleinen Exkurs über einige mythengeschichtliche Einzelprobleme des Konflikts zwischen Gleichheits- und Gemeinschaftsmythen,[179] der schließlich in einer Klage über den Verlust des Mythos als Ausdrucksmittel für Transzendenzerfahrungen in der Gegenwart mündet: „Das unvermeidliche Ergebnis“, so Voegelin, „ist das Phänomen der `Verlorenheit' in einer Welt, die keine Ordnungspunkte mehr im Mythos hat.“[180] Etwas unvermittelt leitet Voegelin daraus eine Erklärung für den letzten Weltkrieg ab: „Die gesellschaftsdynamisch wichtigsten Symptome sind die `Bewegungen' unserer Zeit ... und die 'großen Kriege': die Kriege nicht nur, wo sie vielleicht ein positives Wollen zur orgiastischen Entladung verraten, sondern auch dort, wo sie hingenommen werden müssen, weil die Handlungen, die sie verhindern könnten, durch die Paralyse des Ordnungswillens, der nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat, unmöglich gemacht werden.“[181] Nun ist aber die Berufung auf den „Gemeinschaftsmythos“ ein charakteristisches Merkmal gerade der faschistischen Ideologien. Wenn Voegelin mit der „Paralyse des Ordnungswillens“ auf die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler anspielen wollte, dann laufen seine Ausführungen auf den Vorwurf an die westlichen Demokratien hinaus, sich nicht ihrerseits faschistischer Methoden bedient zu haben.

Um angemessen über Dinge und Zusammenhänge reden zu können, die mehr sind als bloß Gegenstände endlicher, innerweltlicher Erfahrung, existiert für Voegelin neben der Mythensymbolik noch eine philosophisch-begriffliche Alternative in Form der Prozesstheologie. Sie beschreibt „die Beziehungen zwischen dem Bewusstsein, den bewusstseinstranszendenten innerweltlichen Seinsklassen und dem welttranszendenten Seinsgrund“[182] . Dieser Aufgabe ist die Prozesstheologie im Gegensatz zu anderen Ansätzen innerhalb der Metaphysik deshalb gewachsen, „weil in ihr zumindest der Versuch gemacht wird, die bewusstseinstranszendente Weltordnung in einer `verstehbaren' Sprache zu interpretieren“, nämlich in einer Sprache, die an „der einzig `von innen' zugänglichen Erfahrung des Bewusstseinsprozesses“[183] orientiert ist. Wie dies mit der vorherigen Behauptung zu vereinbaren ist, dass gerade dieses Modell zum Ausdruck der Erfahrung transfiniter Wirklichkeit eher untauglich sei,[184] enthüllt Voegelin nicht. Wahrscheinlich muss man sich die Prozesstheologie als der Mythologie verwandt vorstellen. Die Prozesstheologie stützt sich auf zwei „Erfahrungskomplexe“: Zum einen stützt sie sich auf die „Erfahrung“, dass die Welt aus mehreren wesensverschiedenen aber dennoch voneinander abhängigen Seinsstufen aufgebaut ist, und zum anderen basiert sie auf der in der Meditation zugänglichen Erfahrung des „welttranszendenten Seinsgrundes“. Werden diese beiden Erfahrungen kombiniert, so ergibt sich aus der Erfahrung der Abhängigkeit der Seinsstufen voneinander die „Nötigung“, sie als Phasen eines Prozesses der Entfaltung einer identischen Substanz zu betrachten, welcher - hier kommt die meditative Erfahrung ins Spiel - im welttranszendenten Seinsgrund seinen Ursprung hat. Da die Prozesstheologie unmittelbar auf „ontologischen Erfahrungen“ beruht, entzieht sie sich, wie Voegelin glaubt, auch den ansonsten naheliegenden erkenntnistheoretischen Einwänden Kantischer Provenienz, wonach es unzulässig ist, Kategorien der innerweltlichen Erfahrung auf das anzuwenden, was außerhalb aller möglichen Erfahrung liegt.[185]

Auf der Grundlage dieser ontologischen Stufentheorie vollzieht Voegelin nun den Übergang vom Primat der Bewusstseinsphilosophie zum Primat der Ontologie.[186] Zunächst geht Voegelin jedoch zum Ausgangspunkt seiner bewusstseinsphilosophischen Überlegungen zurück. Wenn das Bewusstsein durch die „Erhellungsdimensionen“ der „Vergangenheit“ und „Zukunft“ strukturiert ist und Zeit als solche dem Bewusstsein nicht unmittelbar gegeben ist, so kann bezweifelt werden, dass zwischen diesen Erhellungsdimensionen die zeitliche Beziehung der Sukzession besteht. Das Element der Zeitlichkeit lässt sich aus diesen Erhellungsdimensionen deshalb nicht ableiten,[187] weil es auch vorstellbar ist, dass Erinnerungen und Projektionen nur Phantasien eines im Augenblickspunkt der Gegenwart verharrenden Bewusstseins sind. Wie kann man aber einem solchen „Solipsismus des Augenblickes“[188] entgehen? Der einzige Ausweg besteht für Voegelin in der „Einsicht, dass das menschliche Bewusstsein nicht eine Monade ist, welche die Existenzform des Augenblicksbildes hat, sondern dass es menschliches Bewusstsein ist, d.h. Bewusstsein im Fundament des Leibes und der Außenwelt.“[189] Voegelin spricht hier zwar von einer „Einsicht“, aber diese Einsicht hat eher den Charakter eines Postulates, denn nachdem Voegelin einmal beim Solipsismus des Augenblickes angelangt ist, gibt es nichts mehr, woraus das Sein der Zeit und der Welt mit Gewissheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit erschlossen werden könnte.

Unter dem Gesichtspunkt dieser ontologischen Einsicht ist auch der Begriff des Bewusstseinsprozesses neu zu deuten. Damit wir die Bewusstseinsvorgänge als zeitlichen Prozess auffassen können, sind „Erfahrungen von bewusstseinstranszendenten Prozessen“[190] erforderlich. Wie dies möglich ist, wenn - wie Voegelin zuvor kategorisch behauptet hat - der innere Bewusstseinsprozess seinerseits das einzige Modell darstellt, mit dem wir bewusstseinstranszendente Prozesse verstehen können,[191] bleibt etwas im Dunkeln. Voegelin scheint von einer Art wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Sein und Bewusstsein auszugehen, wenn er im folgenden einerseits die physische Bedingtheit des Bewusstseins betont, zugleich aber der idealistischen Ansicht Raum gibt, dass das Sein der Dinge von der Beziehung auf ein Bewusstsein abhängig ist. Es lässt sich nicht leicht feststellen, auf welche Weise Voegelin bei dieser Argumentation einem Zirkelschluss entgehen will. Wahrscheinlich zu Recht weist Voegelin jedenfalls darauf hin, dass daraus, dass das Bewusstsein uns in innerer Erfahrung nur als reines Bewusstsein gegeben ist, nicht folgt, dass es nichts anderes als reines Bewusstsein ist. Vielmehr liefert nach Voegelins Überzeugung die innere Erfahrung nur eine Teilansicht eines untrennbaren materiell-geistigen Seinskomplexes. In der inneren wie der äußeren Erfahrung bekommt der Mensch jeweils nur den äußersten Zipfel eines Seins zu fassen, das sich weit über das in der Erfahrung Gegebene hinaus erstreckt.[192]

Aus all diesen Überlegungen zieht Voegelin die Schlussfolgerung, dass die Bewusstseinsphilosophie keinen geeigneten Anfangspunkt der Philosophie darstellt. Das Bewusstsein setzt vielmehr das Sein voraus und die Frage des Anfangs kann nun immer weiter zurückgeschoben werden bis hin zur Frage des Anfangs der Geschichte des Kosmos. Offenbar trennt Voegelin nicht zwischen der Frage des erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes und der Frage der historischen Seinsvoraussetzungen des Erkenntnisvermögens. Das klassische Problem eines absoluten Anfangs der Philosophie wird Voegelin noch in „Order and History V“ beschäftigen.[193] Vorerst gelangt Voegelin zu dem Ergebnis, dass das Bewusstsein auf Grund dieser nie vollständig aufklärbaren Anfangsvoraussetzungen nicht wie äußere Gegenstände erkannt und beschrieben werden kann, sondern dass es lediglich durch Besinnung sich selbst und sein eigenes Sein erhellen kann.[194]

Nachdem Voegelin solcherart die „Kehre“ zur Ontologie vollzogen hat, behandelt er als letztes Thema dieses Aufsatzes die wissenssoziologische Frage, wie es zu dem Auftreten der seiner Ansicht nach verfehlten Bewusstseinsphilosophien kommen konnte. Voegelin liefert eine solche Erklärung an zwei Stellen seines Aufsatzes. Die erste Erklärung bezieht sich auf den speziellen Fall der Bewusstseinsstromtheorien, die zweite Erklärung betrifft die Bewusstseinsphilosophie im Allgemeinen.

In den Bewusstseinsstromtheorien glaubt Voegelin ein „laizistisches Residuum der christlichen Existenzvergewisserung in der Meditation“[195] wiederentdecken zu können. Vermutlich auf Grund von einfühlendem Nachvollzug gelangt Voegelin zu der Auffassung, dass im Bewusstseinserlebnis des „Strömens“ der „Engpaß des Leibes spürbar wird“.[196] Voegelin schließt daraus, dass die Bewusstseinsstromtheorien ebenso wie die christliche Meditation auf eine Form der Transzendenz zielen. Während die Meditierenden in der christlichen Meditation jedoch Welttranszendenz suchen, zielen die Bewusstseinsstromtheorien lediglich auf die bloße Bewusstseinstranszendenz in Richtung der Leibsphäre hin.[197]

In einem etwas allgemeineren Rahmen stellt das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie für Voegelin die Reaktion auf eine Krise der Symbole dar, wie sie alle Kulturen von Zeit zu Zeit heimsucht. Die Symbole, mit denen die Menschen ihre Transzendenzerfahrungen ausdrücken, tendieren dazu, im Laufe der Zeit schal und inhaltsleer zu werden. Die daraus resultierende Kulturkrise kann nur durch die Beseitigung der alten und die Bildung neuer Symbole zum Ausdruck der Transzendenzerfahrungen behoben werden. Platon war dies als Antwort auf die Krisis der hellenischen Kultur im 5.Jahrhundert vor Christus in vorbildlicher Weise gelungen. Die neuzeitliche Philosophie, die mit Descartes ihren Anfang nimmt, stand nach Voegelins Ansicht vor einer ähnlichen Aufgabe, doch hat sie ihr Ziel verfehlt, indem sie zwar mit der Tradition gründlich aufräumte aber zugleich auch die Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie ausschloss.[198]

[162] Voegelin, Anamnesis, S. 37-60.

[163] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 37-43.

[164] Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, Stuttgart 1998, S. 312-330 (Elftes Buch. XIII.15 - XXVIII.38). Man könnte geneigt sein, gegen die Logik dieser Art von Zeittheorien einzuwenden, dass die Vorgänge innerhalb des Bewusstseins, aus denen die Zeit hervorgeht, doch schon die Zeit als solche voraussetzen. Aber in der Tat setzen sie höchstens bestimmte (zeitliche) Relationen voraus. (Voegelin scheint diese Kritik jedoch ernst zu nehmen, denn er bringt sie etwas später als Selbsteinwand vor; vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 54/55.) Die idealistischen Zeittheorien scheitern aus einem anderen Grund: Wenn die Zeit ausschließlich eine Form oder Leistung des Bewusstseins ist, so ist nicht erklärlich, wie die Kommunikation zwischen den „Bewusstseinen“ verschiedener Menschen zeitlich aufeinander abgestimmt erfolgen kann, da die Botschaften des einen an das andere Bewusstsein doch durch eine äußere Welt hindurch müssen, in der die Zeitrelationen, die der idealistischen Annahme zufolge reine Bewusstseinsprodukte sind, verloren gehen müssten. (Das Argument stammt aus: Russell, History of Western Philosophy, S. 689, wo es im Zusammenhang mit der Diskussion der idealistischen Raum- und Zeittheorie Kants auftaucht. Es lässt sich aber unmittelbar auch auf andere idealistische Zeittheorien übertragen.)

[165] Voegelin, Anamnesis, S. 44.

[166] Nur wenige Seiten weiter behauptet Voegelin sonderbarerweise genau das Gegenteil: „... die Ordnung des Augenblicksbildes in der Dimension, die durch die Erhellung geschaffen wird, zur Sukzession eines Prozesses erfordert Erfahrungen von bewußtseinstranszendenten Prozessen.“ (Voegelin, Anamnesis, S. 55.)

[167] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45. - Welche Paradoxe der Mengenlehre Voegelin meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Wahrscheinlich denkt Voegelin dabei an die Russellsche Antinomie, die eine Variante des klassischen Lügnerparadoxons ist und auftritt, wenn man versucht die Menge aller Mengen zu bilden, die sich nicht selbst als Element enthalten. (Vgl. auch die Kritik dieser Passage im folgenden Abschnitt.)

[168] Voegelin, Anamnesis, S. 45.

[169] Voegelin, Anamnesis, S. 45.

[170] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 46/47.

[171] Voegelin, Anamnesis, S. 46. - An dieser Stelle wird nebenbei bemerkt deutlich, wie sehr Voegelin den Erfahrungsbegriff strapaziert. Denn, dass das was wir als teilweise Determiniertheit unser Handlungen erfahren mögen, Folge der Einwirkungen eines weltjenseitigen Seins ist, wird als solches eben nicht erfahren, sondern stellt bestenfalls eine metaphysische Deutung dieser Erfahrung dar. Das `weltjenseitiges Sein' hier nur eine (ontologische neutrale) Benennung sein soll, wirkt kaum glaubwürdig, weil diese Benennung eine weltjenseitige Determinante in einem Zusammenhang suggeriert, in dem es viel plausibler wäre, zunächst die Möglichkeit weltdiesseitiger Determinanten in Erwägung zu ziehen. Der Trick der suggestiven Benennung von Phänomenen ist übrigens einer, den Voegelin der Heideggerschen Variante der Phänomenologie abgeschaut haben könnte.

[172] Voegelin, Anamnesis, S. 46.

[173] Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 91ff. (§42ff.).

[174] Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 112-116 (§ 50/51).

[175] Voegelin, Anamnesis, S. 47.

[176] Voegelin, Anamnesis, S. 47.

[177] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 47/48.

[178] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48.

[179] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48-50.

[180] Voegelin, Anamnesis, S. 50.

[181] Voegelin, Anamnesis, S. 50.

[182] Voegelin, Anamnesis, S. 50.

[183] Voegelin, Anamnesis, S. 51.

[184] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45.

[185] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 50-54.

[186] Dieser Übergang ist übrigens durchaus typisch. In ähnlicher Weise ging auch Heidegger, ausgehend von Husserls phänomenologischer Bewusstseinsphilosophie, zur Ontologie über. Etwas vom Heideggerschen Pathos lässt sich bei Voegelin ebenfalls verspüren, wenn er vor dem möglichen Missverständnis warnt, man sei wieder in den „friedlichen Gewässern der Erkenntnistheorie“ (Voegelin, Anamnesis, S. 56.) angelangt.

[187] Zuvor scheint Voegelin jedoch gerade dies versucht zu haben. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44.)

[188] Voegelin, Anamnesis, S. 55.

[189] Voegelin, Anamnesis, S. 55.

[190] Voegelin, Anamnesis, S. 55.

[191] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44.

[192] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 55-57.

[193] Vgl. Voegelin, Order and History V, S. 13f.

[194] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 57/58.

[195] Voegelin, Anamnesis, S. 37.

[196] Voegelin, Anamnesis, S. 40. Außer seinen eigenen Assoziationen, für die sich in den zeitphilosophischen Texten, auf die Voegelin sich bezieht, durchaus einzelne Hinweise finden lassen, führt Voegelin noch einen eher aus dem Zusammenhang gegriffenen Gedanken von William James (Vgl. William James: Essays in Radikal Empirischem, Anbringe, Kassakurses / London, England 1976, S. 19.) und etwas später (Anamnesis, S. 42) Bergsons Behandlung der eleatischen Paradoxe an. Bergson ist jedoch ein schlechter Gewährsmann, denn seine Behandlung der eleatischen Paradoxe scheint auf einer Verwechselung der physikalischen Begriffe von Ort und Bewegung zu beruhen: Dass ein Körper sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Punkt im Raum befindet schließt nämlich nicht aus, dass er in diesem Punkt einen Bewegungszustand hat. (Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 184-190.)

[197] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 41-42.

[198] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58-60.

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