Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
    4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
        4.1.1 Husserls Krisis-Schrift
        4.1.2 Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes
        4.1.3 Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte
        4.1.4 Voegelins Descartes-Deutung
    4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    4.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

4.1.4 Voegelins Descartes-Deutung

Dass Voegelin sich große Interpretationsfreiheiten erlaubt, wird auch an seiner Auseinandersetzung mit Husserls Descartes-Bild deutlich, denn die rationale und wissenschaftliche Ausrichtung von Descartes' Denken lässt im Grunde wenig Raum für die Eindrücke von Transzendenzerfahrungen. Für Voegelin greift Husserls Descartes-Interpretation zu kurz, weil Husserl der Philosophie des Descartes eine rein erkenntnistheoretische Bedeutung unterstellt, und weil Husserl nach Voegelins Ansicht den tieferen Sinn von Descartes Gottesbeweis in der dritten Meditation missversteht.

Was die rein erkenntnistheoretische Deutung des Descartes durch Husserl betrifft, so gilt dasselbe, was bereits über Voegelins Kritik an Husserls Geschichtsbild gesagt wurde: Sofern es Husserl um eine Einleitung in die Phänomenologie geht, ist es sein gutes Recht, die Aspekte der Philosophie von Descartes herauszugreifen, die für die Phänomenologie von Bedeutung sind, und dies sind nun einmal die erkenntnistheoretischen. Da Husserls „Krisis“ aber noch von wesentlich höheren Aspirationen getragen wird, sind Einwände gegen das Herausgreifen bestimmter Einzelaspekte der Philosophie des Descartes grundsätzlich legitim.

Etwas anders verhält es sich jedoch mit Husserls Vernachlässigung des Gottesbeweises in der dritten Meditation von Descartes „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“. Husserl erwähnt in der „Krisis“ nur kurz, dass der Gottesbeweis falsch sei, und geht auf die dritte und die folgenden Meditationen gar nicht weiter ein.[155] Er scheint sich hier an eine damals wie heute geläufige Lesart zu halten, nach der die dritte bis sechste Meditation von Descartes noch durch und durch scholastisch sind, und philosophisch Belangvolles nur in den ersten beiden Meditationen zu finden ist.[156] Auch Voegelin sieht in Descartes' Meditationen ein durchaus traditionelles Unternehmen. Für ihn sind die gesamten „Meditationen“ des Descartes eine Spielart der christlichen Meditation, wie sie seit Augustinus insbesondere bei den mystischen Denkern üblich war. Wenn man Voegelin Glauben schenkt, so war es das Ziel der Meditationen von Descartes, wie in der christlichen Meditation üblich, in der Abkehr von der Welt den Kontakt zur Transzendenz als der höchsten Wirklichkeit zu finden. Das Neue bei Descartes besteht nach Voegelin darin, dass Descartes - anders als seine Vorläufer - die Meditation nicht aus einer Haltung der Verachtung der Welt heraus unternimmt, sondern in der Absicht, sich durch den Kontakt zur höchsten Realität der Realität bzw. der Objektivität der Welt zu versichern. Der Gottesbeweis in der dritten Meditation ist, Voegelin zufolge, in diesem Zusammenhang nicht als logische Beweisführung, sondern als sekundärer, in der Stilform der demonstratio gefasster Ausdruck der als solcher unmittelbaren und eines Beweises nicht bedürftigen Gotteserfahrung zu sehen.[157]

Voegelins Descartes-Interpretation ergibt sich nicht ganz zwanglos aus dem Text der „Meditationes“, da dort von der Gotteserfahrung nur sehr am Rande die Rede ist. Wäre mit der Erfahrung Gottes schon seine Existenz und darüber hinaus die Existenz der Welt mitgegeben, so erscheint es ganz und gar unnötig, dass Descartes versucht, mit Hilfe scholastischer Schlussweisen, deren Falschheit Voegelin gar nicht bestreitet, zu zeigen, dass die Vorstellung Gottes anders als alle anderen Vorstellungen die Existenz des Vorgestellten impliziert.[158] Darüber hinaus unterscheidet sich Descartes' Text nicht nur in der Intention der Weltvergewisserung sondern auch in der Art und Weise der Darstellung recht deutlich von den „ekstatischen Konfessionen“[159] von Mystikern wie etwa dem anonymen Autor der von Voegelin zum Vergleich herangezogenen „Cloud of Unknowing“.[160] Es fällt daher nicht unbedingt leicht, die „Meditationen“ unter dieser Art von Literatur einzureihen. Aber selbst wenn man einmal annimmt, dass die „Meditationen“ von Descartes nur eine mit anderen Mitteln vorgenommene Artikulation derselben mystischen Transzendenzerfahrung sind, so stellt sich die Frage, ob damit irgendetwas gewonnen ist. Wenn schon der Versuch, die Existenz der Außenwelt argumentativ zu beweisen, fehlgeschlagen ist, dann kann die Existenz der Außenwelt durch den Rückgriff auf eine Transzendenzerfahrung ebensowenig begründet werden. Denn es ist zwar vorstellbar, dass eine Transzendenzerfahrung ein sehr starkes Vertrauen in das Sein der Welt einflößt, aber außer der bloßen Erfahrung einer Transzendenz ist nicht auch das Sein der Transzendenz selbst und außerdem noch das objektive Sein der Welt in dieser Erfahrung mitgegeben, da auch bei einer Transzendenzerfahrung eine Täuschung denkbar ist, genauso wie eine Halluzination oder Sinnestäuschung bei der Sinneserfahrung. Die Erfahrung der Transzendenz, was immer das für eine Erfahrung auch sein mag, bleibt deshalb für das erkenntnistheoretische Problem der Existenz der Außenwelt ohne Belang. Bloße Gefühle der Gewissheit, wie sie sich in einer Meditation einstellen mögen, sind eben noch keine Gewissheit.

Einzuräumen ist jedoch, dass Voegelin einen Schwachpunkt von Husserls Theorie der „Konstitution“ des Seins durch Leistungen des Ego trifft, wenn er in diesem Zusammenhang die Frage aufwirft, woher das Ego die Funktion bekommt, „aus der Subjektivität die Objektivität der Welt zu fundieren“[161] . Husserls phänomenologische Methode gerät in der Tat an ihre Grenzen, wenn es darum geht, das Selbstsein anderer Menschen oder auch nur von Dingen zu begründen.

[155] Vgl. Husserl, Krisis, S. 82.

[156] Vgl. Bertrand Russell: A History of Western Philosophy, London, Sidney, Wellington 1990, im folgenden zitiert als: Russell, History of Western Philosophy, S. 550.

[157] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 32-35.

[158] Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1993, S. 36ff.

[159] So der Titel einer Sammlung mystischer Erfahrungsberichte, die teilweise mit den Mitteilungen „Cloud of Unknowing“, die von Voegelin in diesem Zusammenhang angeführt wird, vergleichbar sind (z.B. der Auszug aus der Erzählung des Tewekhul-Beg, Schüler des Moll über sein mystisches Noviziat, S. 47-49.) in: Buber, Martin (Hrsg.): Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1921.

[160] Vgl. A Book of Contemplation wich is called the Cloud of Unknowing, in which a Soul is oned with God. (ed. Evelyn Underhill, 2nd ed. John M. Watkins), London 1922, auf: www.ccel.org/u/unknowing/cloud.htm (Host: Christian Classics Ethereal Library at Calvin College. Zugriff am: 5.4.2000). - Ein Vergleich mit Descartes, wie Voegelin ihn anstellt (vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 33) bietet sich noch am ehesten an, wenn man das Ende des vierten und das fünfte Kapitel dieses Werkes dem Beginn von Descartes' dritter Meditation gegenüberstellt. Aber die oberflächlichen Ähnlichkeiten, die sich dabei auffinden lassen, können kaum über den himmelweiten Unterschied in Inhalt, Gegenstand, Absicht, Ausführung und Ziel dieser beiden Werke hinwegtäuschen.

[161] Voegelin, Anamnesis, S. 36. - Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 84-91 (§ 40-41).

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