Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
    4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
        4.1.1 Husserls Krisis-Schrift
        4.1.2 Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes
        4.1.3 Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte
        4.1.4 Voegelins Descartes-Deutung
    4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    4.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

4.1.3 Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte

Über die Verfehltheit von Ideologien einer geschichtlichen Endzeit lässt sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz nicht weiter aus. (Sie ist ohnehin offensichtlich genug.) Was hat Voegelin aber daran auszusetzen, die Geschichte, so wie es bei Husserl geschieht, als eine Geschichte des Fortschritts zu schreiben? Für Voegelin spielt dabei sowohl ein moralisches als auch ein eher wissenschaftliches Motiv eine Rolle. Moralisch kritikwürdig erscheint Voegelin die Inhumanität, die darin liegt, die vergangenen Epochen und das Streben der damals lebenden Menschen nur als Mittel zum Zweck für die Gegenwart zu betrachten. Wissenschaftliche Schwierigkeiten entstehen für Voegelin dadurch, dass vergangene Epochen nicht angemessen verstanden werden können, wenn in ihnen nur eine Vorstufe der Gegenwart gesehen wird.

Die moralische Problematik der Fortschrittsphilosophie erläutert Voegelin unter Rückgriff auf Kant. Kant teilte mit vielen anderen Aufklärern die Ansicht, dass es in der Geschichte einen Fortschritt zum Besseren gibt, so dass sich der Zustand der menschlichen Gesellschaft immer mehr, wenn auch niemals endgültig, einem moralischen Optimum (jeder handelt gut und keinem geschieht ein Unrecht) annähert. Zugleich äußert Kant jedoch auch sein „Befremden“ darüber, dass die späteren Generationen von allen Fortschritten der vorhergehenden profitieren, welche ihrerseits, obwohl sie denselben Beitrag zum Fortschritt geleistet haben, nicht in gleichem Maße die Vorteile davon genießen können.[141] Voegelin erblickt in Kants Befremden eine humane Hemmung, die früheren Generationen nur als Mittel zum Zweck der Verwirklichung eines geschichtlichen Telos zu sehen, welches bei Kant in der Vervollkommnung der Vernunftanlagen besteht. Bei Husserl fehlt diese Humanität und zudem tritt die „Endstiftung“ anders als Kants Vervollkommnung des Vernunftgebrauchs tatsächlich in der Geschichte ein. Diese beiden Punkte markieren für Voegelin den Übergang von der averroistischen Konzeption aufklärerischer Fortschrittsgeschichte zu den noch militanteren averroistischen Spekulationen, die sich in den modernen Geschichtsideologien und, folgt man Voegelin, sogar in seriösen historischen Untersuchungen wie Otto Gierkes Genossenschaftsrecht finden. Husserls Geschichtsbild stellt für Voegelin deshalb eine durchaus zeittypische Erscheinung dar.[142]

Die weniger ethische als wissenschaftliche Problematik dieser Art von Geschichtsdarstellung besteht für Voegelin darin, dass der Historiker „die eigene geistige Position, mit ihrer historischen Bedingtheit, verabsolutiert“[143] und auf die historischen Fakten nur zurückgreift, um die eigene Position zu stützen, ohne dabei jemals verstehend in das historische Material einzudringen. Bei Husserl tritt diese Verabsolutierung in besonders krasser Form auf, da Husserl sich nach Voegelins Ansicht gegen die Möglichkeit empirischer Kritik systematisch abschirmt. Voegelin spielt hier wahrscheinlich auf Husserls theoretische Vorgabe an, dass der Sinn der philosophischen Positionen der Vergangenheit nicht aus den Selbstzeugnissen der Denker, sondern nur durch die Heraushebung einer erst rückblickend aus der Gegenwart erkennbaren latenten „Willensrichtung“ zu bestimmen sei.[144]

Wie sieht für Voegelin aber die Alternative zu diesen Formen von Geschichtsklitterung aus? Nach Voegelins Überzeugung ist es die Aufgabe des Historikers, in der Geistesgeschichte „jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht, d.h. in dem sie in den Transzendenzerfahrungen des betreffenden Denkers verwurzelt ist.“[145] Es kommt weiterhin darauf an, „die geistig-geschichtliche Gestalt des andern bis zu ihrem Transzendenzpunkt zu durchdringen und in solcher Durchdringung die eigene Ausformung der Transzendenzerfahrung zu schulen und zu klären.“[146] Die recht verstandene Geistesgeschichte verfolgt also zwei Ziele: Verstehen der geistigen „Gestalten“ der Vergangenheit und Klärung der eigenen Beziehung zur Transzendenz. Das Verstehen hat dabei strikt am „Leitfaden“ der „ `Selbstzeugnisse' der Denker“[147] zu erfolgen. Die Klärung des Selbstverständnisses durch das „geistesgeschichtliche Verstehen“ zielt letztlich auf eine „Kathar[s]is, eine purificatio im mystischen Sinn, mit dem persönlichen Ziel der illuminatio und der unio mystica“.[148] Wird dieses „geistesgeschichtliche Verstehen“ systematisch ausgeübt, so kann es „zur Herausarbeitung von Ordnungsreihen in der geschichtlichen Offenbarung des Geistes führen.“[149]

Es ist zu berücksichtigen, dass Voegelin dies 1943, also noch lange vor seinem geschichtlichen Hauptwerk „Order and History“, geschrieben hat. Voegelins Ausführungen sind also eher noch als ein frühes Programm zu verstehen.[150] Dennoch kann die Frage aufgeworfen werden, ob dieses Programm eine gangbare Alternative zu den von Voegelin abgelehnten „averroistischen Konzeptionen“ von Geschichte darstellt. In dieser Hinsicht fällt auf, dass Voegelins Programm bereits sehr erhebliche Vorentscheidungen über das Wesen der Geistesgeschichte enthält. Voegelin unterstellt, dass jeder bedeutsamen geschichtlichen Gestalt des Geistes eine Transzendenzerfahrung zu Grunde liegt. Aber nicht alle Denker gründen ihr Denken auf Transzendenzerfahrungen. Die meisten Philosophen gelangen zu ihren Resultaten durch Überlegungen, welche mit einer Auslegung von Transzendenzerfahrungen nichts gemein haben. Es könnte nun behauptet werden, dass die Nichtbeachtung der Transzendenz ebenfalls eine bestimmte, wenn auch eine deformierte Beziehung zur Transzendenz repräsentiert. Wird dies behauptet, so wird jedoch gleichzeitig eine andere methodische Forderung Voegelins vernachlässigt, nämlich die, „jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht“,[151] denn durch Betrachtung eines nicht-religiösen Denkers unter dem Gesichtspunkt der Transzendenzerfahrungen werden an diesen Denker völlig heteronome Maßstäbe herangetragen. Voegelin stellt hier also zwei einander widersprechende methodische Forderungen auf: Zum einen, die Denker der Vergangenheit strikt auf Grundlage ihrer Selbstzeugnisse zu erfassen, und zum anderen, jede geistige Position in der Vergangenheit zwingend als Ausdruck einer Transzendenzerfahrung zu verstehen.

Betrachtet man dieses frühe historische Programm im Hinblick auf sein späteres geschichtliches Werk, dann fallen einige Abweichungen auf: So ließ sich etwa die Forderung, vom Selbstverständnis der Denker der Vergangenheit auszugehen, nicht durchhalten. Wenigstens für bestimmte philosophische Systeme gibt Voegelin diese Forderung später auch explizit auf.[152] Weiterhin kann die scharfe Kritik, die Voegelin etwa an Otto Gierkes „phantastischer Vergewaltigung Bodins“[153] übt, auch gegen Voegelins eigene Klassikerinterpretationen gekehrt werden, die nicht selten eher kongenial als historisch und philologisch zuverlässig sind. Sogar der Vorwurf der „averroistischen Spekulation“ könnte gegen Voegelin selbst gerichtet werden, wenn er in seinen späteren Schriften das menschliche Bewusstsein an einem Prozess partizipieren lässt, „durch den die Wahrheit der Realität sich ihrer selbst bewusst wird“,[154] was von Husserls durch die konkreten Philosophen hindurchgehender Willensrichtung nicht allzu weit entfernt ist. Voegelins eigene Geschichtskonstruktion ist in diesen Punkten derjenigen Husserls, die er zu recht kritisiert, näher, als dies die Entschiedenheit seiner Vorwürfe erwarten lassen sollte.

[141] Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Dritter Satz), in: Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 21-39 (S. 25). In Voegelins Kant-Interpretation tritt gegenüber Kant eine leichte Bedeutungsverschiebung ein. Während Voegelin hier eine Frage des Sinns sieht, geht es bei Kant (wenigstens dem Sachzusammenhang nach, wenn auch noch andere Motive im Hintergrund eine Rolle spielen mögen) eher um eine Frage des materiellen Ausgleichs. Dies hat natürlich auch Folgen für die Interpretation der geistesgeschichtlichen Rolle Kants, die hier jedoch nur kurz angedeutet werden können: Es erscheint grundsätzlich fragwürdig, in Kants Geschichtsphilosophie (bzw. in den Geschichtsvorstellungen der Aufklärer überhaupt) eine „averroistische Konzeption“ zu sehen. Die Geschichtsphilosophie Kants war durchaus keine Geschichtssinntheorie (wie die Geschichtsphilosophien des Deutschen Idealismus), denn nicht die Geschichte verleiht bei Kant dem Leben und Schaffen des Einzelnen Sinn und Wert (und auch nicht die Glückseligkeit, die nur eine Belohnung ist, auf die er nach dem Tode hoffen darf), sondern die Erfüllung der Pflicht (meine Interpretation). Kants Fortschrittsphilosophie war der Ausdruck der optimistischen Hoffnung, dass sich das Gute einmal durchsetzen wird, aber das Gute ist bei Kant (noch) nicht dadurch definiert, wer in der Geschichte siegreich bleibt. Die grundsätzliche Möglichkeit, Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu schreiben, ohne in „averroistische Spekulationen“ zu verfallen, kann auch Voegelin nicht leugnen, sonst müsste er sich wegen der Fortschritte der spirituellen Ausbrüche, von denen „Order and History“ handelt, selbst der „averroistischen Spekulation“ bezichtigen. Voegelins Bild einer Kontinuität von der aufklärerischen Fortschrittsphilosophie (Geschichtsideologie ist Fortschrittsphilosophie minus Humanität plus Endzeitglaube) zu den modernen Geschichtsideologien erscheint deshalb teilweise fragwürdig.

[142] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 28-30.

[143] Voegelin, Anamnesis, S. 31.

[144] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 31. - Vgl. Husserl, Krisis, S. 78-80.

[145] Voegelin, Anamnesis, S. 31.

[146] Voegelin, Anamnesis, S. 31.

[147] Voegelin, Anamnesis, S. 32.

[148] Voegelin, Anamnesis, S. 31.

[149] Voegelin, Anamnesis, S. 32.

[150] Vgl. Jürgen Gebhardt: Toward the Process of universal Mankind. The Formation of Voegelin's Philosophy of History, in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 67-86, S. 78.

[151] Voegelin, Anamnesis, S. 31.

[152] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 310. - Siehe auch Seite 5.2.3 in diesem Buch.

[153] Voegelin, Anamnesis, S. 30.

[154] Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 123).

t g+ f @