Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
    4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
        4.1.1 Husserls Krisis-Schrift
        4.1.2 Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes
        4.1.3 Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte
        4.1.4 Voegelins Descartes-Deutung
    4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    4.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“

4.1.1 Husserls Krisis-Schrift

Bevor auf Voegelins Auseinandersetzung mit Husserls Schrift: „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“[110] eingegangen wird, ist einiges zu dieser Schrift selbst zu sagen.

Husserls Schrift ist als eine Einführung in die Phänomenologie konzipiert. Sie entstand aus mehreren Vorträgen, die Husserl im Jahre 1935 gehalten hat. Da Husserl 1936 in Deutschland nicht mehr publizieren durfte, wurde die Schrift 1936 in der in Belgrad erscheinenden Zeitschrift „Philosophia“ veröffentlicht.[111] Auf diese Fassung, welche Voegelin 1943 in die Hände bekommen konnte, bezieht sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz. Gegenüber der 1954 in der Reihe Husserliana erschienenen und um bis dahin unpubliziertes Material ergänzten Ausgabe ist die „Philosophia“-Fassung um einiges kürzer. Insbesondere wird in der frühen Fassung die Lebenswelt-Problematik noch kaum angerissen. Dies ist zu berücksichtigen, da Voegelins Enttäuschung über den wieder nur rein erkenntnistheoretischen Charakter von Husserls Werk sonst leicht ungerecht erscheinen könnte.

Husserl hat in seinen einführenden Schriften recht unterschiedliche Zugänge zur Phänomenologie gegeben. In den „Cartesianischen Meditationen“ beispielsweise wird die Phänomenologie durch die Aufgabe motiviert, die Basis für eine letztbegründete und umfassende philosophische Universalwissenschaft zu schaffen.[112] In seiner letzten Einführung hingegen wird die Phänomenologie, wie sich schon im Titel andeutet, durch einen geistigen Notstand motiviert. Dieser geistige Notstand besteht darin, dass die Weltsicht der Gegenwart fast vollkommen von den Naturwissenschaften und insbesondere von der Physik als der Leitwissenschaft dominiert wird.[113] Husserl betrachtet dies als ein Verhängnis, weil die Naturwissenschaften nach seiner Auffassung nicht die wirkliche Welt wiedergeben (welche für Husserl einzig und allein die Welt der konkret gegebenen Phänomene ist), sondern der wirklichen Welt mathematische Gestalten unterschieben. Zwar ist Husserl bereit, die pragmatische Brauchbarkeit dieser Gestalten anzuerkennen, aber er hält es für einen schweren Fehler, ihnen eine ontologische Beschreibung der Welt zu entnehmen. Den Irrtum, die Modelle der Naturwissenschaften als Beschreibungen der Wirklichkeit zu verstehen, bezeichnet Husserl als „Physikalismus“.[114] Dass es sich beim Physikalismus um einen Irrtum handelt, versucht Husserl durch eine suggestive Beschreibung der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu zeigen. Als Ausweg aus dem Physikalismus preist Husserl die transzendentale Phänomenologie an. Sie würde es ermöglichen, die Wirklichkeit in ihrer konkreten phänomenalen Gegebenheit für das Bewusstsein zurückzugewinnen und die Wissenschaften wieder in angemessener Weise in die Lebenswelt einzubetten.[115]

Allerdings bleibt es in der „Krisis der europäischen Wissenschaften“ nicht bei der Kritik am Physikalismus, denn Husserl beabsichtigt, so scheint es, der Phänomenologie die Weihen einer historischen Mission zu verleihen. Husserl behauptet dazu, dass sich in der Geistesgeschichte ein „Telos“ auffinden lasse, wobei das Wort „Telos“ einen recht vieldeutigen Sinn gewinnt, der sowohl Ziel und Ursprung als auch Anklänge von Legitimation und Verpflichtung beinhaltet. Was Husserl in diesem Zusammenhang zu dem Thema der Geschichtsteleologie zu sagen hat, rückt seine Darstellung in der Tat stark in die Nähe einer Geschichtsideologie. Husserl zufolge ist dieses Telos nämlich ein aus der Geschichte ablesbarer höherer Wille, der auf die Entwicklung der phänomenologischen Philosophie hinzielt.[116] Dieser Wille darf keineswegs verwechselt werden mit den Absichten einzelner Philosophen, vielmehr ist er als eine durch den einzelnen Philosophen „hindurchgehende Willensrichtung“[117] zu verstehen. Deshalb kann dieser Wille auch nicht den Selbstzeugnissen dieser Philosophen entnommen werden, sondern muss unter Zuhilfenahme einer kunstvollen hermeneutischen Interpretationstechnik im historischen Rückblick aus dem Verborgenen hervorgehoben werden.[118] Entstanden ist dieser Wille in den beiden „Urstiftungen“ der antiken griechischen Philosophie und des philosophischen Neuanfangs durch Descartes. Diese Urstiftungen verlangen ihrem Wesen nach (und nicht bloß, wie man denken könnte, ihrem Namen nach) nach einer „Endstiftung“,[119] für welche aus philosophisch-sachlichen Gründen nur die transzendentale Phänomenologie in Frage kommt. Urstiftungen und Endstiftungen sind dabei keine kontingenten historischen Ereignisse, sondern Ausdruck einer im „Menschentum“ beschlossenen „Vernunftentelechie“.[120] Die Autorität, die hinter diesem „Telos“ steht, ist die Autorität der Geschichte und der Tradition oder, wie es Husserl auch ausdrückt, der „Wille der geistigen Vorväter“[121] . Philosophieren in der Gegenwart ist nur im reflektierten Rückbezug auf die Tradition möglich, da jeder Versuch, sich von den Vorurteilen der Tradition zu lösen, nur unter Rückgriff auf „Selbstverständlichkeiten“ erfolgen kann, die wiederum einer Tradition entspringen.[122] Sind die Philosophen nun aber nicht willens oder in der Lage, sich der Aufgabe, die ihnen durch das historische Telos gegeben ist, zu stellen, so würde dies zu den in Husserls Augen erschreckenden Konsequenzen führen, dass die Geschichte keinen Sinn hätte, dass das europäische Menschentum keine „absolute Idee“ in sich trüge und „ein bloß anthropologischer Typus wie `China' oder `Indien' “ wäre, und dass das „Schauspiel der Europäisierung aller fremden Menschheiten“[123] nicht zum Sinn der Geschichte gehören würde. (Für Husserl, der seine besten Mannesjahre im Zeitalter der Kolonialherrschaft verlebt hat, war die „Europäisierung aller fremden Menschheiten“, wie man sieht, noch nicht mit der Vorstellung bitteren Unrechts verknüpft, so dass sich ihm auch nicht die Frage stellte, was wohl die „fremden Menschheiten“ von seiner Geschichtsphilosophie halten würden.) Die Verantwortung der Philosophen ist denn auch denkbar groß, denn die „eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Menschentums als solchen spielen sich als Kämpfe der Philosophien ab“[124] , und die Philosophen sind gar „Funktionäre der Menschheit“.[125]

[110] Husserl, Krisis, a.a.O.

[111] Vgl. dazu die Einleitung von Elisabeth Ströker, in: Husserl, Krisis, S.IXff.

[112] Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 1987, S. 8ff.

[113] Vgl. Husserl, Krisis, S. 3-5 (§ 2).

[114] Vgl. Husserl, Krisis, S. 68.

[115] Husserls Kritik des „Physikalismus“ ist alles andere als überzeugend, worauf hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann. Die Hauptschwachpunkte seien nur kurz angemerkt: 1. Husserl unterstellt, dass die Naturwissenschaft der Natur etwas unterschiebt, was sie in Wirklichkeit nicht ist. Da die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse jedoch experimentell auf die Probe stellt, kann sie der Natur nicht ohne Weiteres etwas Falsches unterschieben. Husserls Vorwurf kann sich also höchstens noch darauf beziehen, dass die Naturwissenschaft die Erscheinungen nicht für das Sein der Natur nimmt. Wird dies jedoch als illegitim angesehen, so stellt sich die Frage, ob dann nicht auch die „eidetische Wesensschau“ des Phänomenologen (Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S. 101-107.) dem Phänomen ein Wesen unterschiebt. 2. Husserls historische Darstellungstechnik ist nicht besonders gut dazu geeignet, systematische Probleme zu lösen, auch wenn sich aus ihr möglicherweise systematische Argumente indirekt entnehmen lassen. Die Feststellung z.B., dass die mathematisch-geometrischen Gestalten ursprünglich Methode (nämlich Feldmesskunst) waren (Vgl. Husserl, Krisis, S. 52ff.), besagt noch längst nicht, dass sie in ihrer entwickelten Form für den Ausdruck ontologischer Zusammenhänge untauglich wären. Es sei denn, man nimmt an, dass etwas, was einmal Methode gewesen ist, sich niemals zu etwas wesentlich anderem entwickeln kann, oder dass Wissenschaften sich grundsätzlich nicht von ihrem historischen Ursprung emanzipieren können oder dürfen.

[116] Vgl. Husserl, Krisis, S. 14-19 (§ 6,7).

[117] Husserl, Krisis, S. 78.

[118] Vgl. Husserl, Krisis, S. 62-64 (§ 9 l) ) / S. 77-80 (§ 15), S. 109.

[119] Vgl. Husserl, Krisis, S. 79.

[120] Vgl. Husserl, Krisis, S. 15.

[121] Husserl, Krisis, S. 78.

[122] Vgl. Husserl, S. 78-79.

[123] Husserl, Krisis, S. 16.

[124] Husserl, Krisis, S. 15. (Hervorhebungen im Original.)

[125] Husserl, Krisis, S. 17. (Hervorhebungen im Original.)

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