Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
    4.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
    4.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
        4.2.1 Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“
        4.2.2 Kritik von Voegelins Theorie des Bewusstseins
    4.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

4.2.2 Kritik von Voegelins Theorie des Bewusstseins

Sind Voegelins Überlegungen „Zur Theorie des Bewußtseins“ überzeugend? Geben sie die Beziehungen zwischen Sein und Bewusstsein richtig wieder und dürfen Voegelins Argumente als stichhaltig angesehen werden? Da es kaum möglich ist, auf alle Einzelheiten der sehr vielfältigen Ausführungen Voegelins einzugehen, sollen zur genaueren kritischen Untersuchung nur einige Punkte herausgegriffen werden, die für Voegelins Argumentation von wesentlicher Bedeutung sind.

Innerhalb von Voegelins eigener Darstellung der Bewusstseinsstruktur findet sich an zentraler Stelle das Argument, dass sich das Bewusstsein bei dem Versuch, transfinite Prozesse deskriptiv zu beschreiben, auf Grund seiner eigenen Endlichkeit unvermeidlich in Widersprüche verwickelt. Das Argument spielt deshalb eine wesentliche Rolle, weil diese Widersprüche es erforderlich werden lassen, zur Deutung bestimmter Wirklichkeitsbereiche auf die zwar subtilen und seelisch sensiblen aber an Klarheit und Objektivität hinter einer deskriptiven Beschreibung zurückstehenden Instrumente der Mythensymbolik und der Prozesstheologie zurückzugreifen. Unglücklicherweise steckt gerade in dieser Passage von Voegelins Darstellung eine Reihe von Fragwürdigkeiten, die sich nicht ohne weiteres auflösen lassen.

Zunächst einmal ist es zweifelhaft, ob, wie Voegelin es behauptet, der Bewusstseinsprozess das einzige erfahrene Modell eines Prozesses darstellt. Prozesse oder, mit anderen Worten, zeitlich ablaufende Vorgänge im weitesten Sinne erleben wir tagtäglich in der äußeren Erfahrung, z.B. wenn wir ein fahrendes Auto beobachten. Die äußere Erfahrung eignet sich dabei mindestens ebenso gut, wenn nicht besser, als die innere Erfahrung, um den Begriff eines Prozesses zu bilden. Abgesehen davon ist es aber auch überhaupt nicht erforderlich, zur Bildung eines Begriffes diesen von irgendeiner Erfahrung abzuziehen. Ebenso wie ein großer Teil unseres Wissens nicht aus unmittelbarer Erfahrung stammt, gibt es auch viele Begriffe, die rein abstrakt sind. Alle mathematischen Begriffe gehören zu dieser Klasse. Insbesondere ist es ohne Probleme möglich, widerspruchsfreie Begriffe von Unendlichkeit zu bilden. Die Mengenlehre verfügt über mehrere solcher Begriffe. Freilich decken diese Begriffe nicht alle Wortbedeutungen von „unendlich“ ab, und die „unendliche Sehnsucht“, von der ein romantischer Dichter schwärmen mag, wird von der Mengenlehre nicht erfasst, aber es ist nun nicht mehr einleuchtend, weshalb die Finitheit des Bewusstseinsprozesses bei der Beschreibung von unendlichen Prozessen zu den von Voegelin unterstellten Ausdruckskonflikten führen muss. Außerdem scheint sich Voegelin auch hinsichtlich der Bedeutung der Kantischen Antinomien geirrt zu haben. Kants Antinomien beruhen letztlich auf unterschiedlichen Voraussetzungen, die den einander gegenübergestellten Beweisen und Gegenbeweisen zu Grunde liegen. Um Antinomien könnte es sich nur noch dann handeln, wenn diese Voraussetzungen gleichermaßen notwendig wären. Aber dies - und hierin irrt Kant und mit ihm viele seiner Interpreten und, wie es scheint, leider auch Voegelin - ist nicht der Fall.[199] Was Voegelin schließlich mit den Paradoxen der Mengenlehre meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Möglicherweise meint Voegelin die Russellsche Antinomie, die in der naiven Mengenlehre auftritt. Aber erstens handelt es sich nicht um ein Paradox der Unendlichkeit, und zweitens lässt sie sich mühelos durch eine axiomatische Fassung der Mengenlehre beseitigen.[200]

Voegelins Argument ließe sich im Grundsätzlichen immer noch dann rechtfertigen, wenn es gelänge zu zeigen, dass bestimmte Wirklichkeitsbereiche aus anderen Gründen als dem ihrer „Infinitheit“ einer deskriptiven Beschreibung unzugänglich sind. Dann müsste die Diskussion um die Fragen geführt werden, ob es diese Wirklichkeitsbereiche tatsächlich gibt, und wenn es sie gibt, ob Mythensymbolik oder Prozesstheologie sie erfassen können. So wie Voegelin argumentiert, bleibt die Notwendigkeit des Gebrauchs dieser Symbolformen jedoch unbegründet.

Einen weiteren wichtigen Abschnitt, der zwar weniger für Voegelins folgende Argumentation von Bedeutung ist, aber dafür seine grundsätzliche philosophische Einstellung widerspiegelt, bildet Voegelins Versuch, das Problem der Anerkennung der Mitmenschen als gleichartige und gleichwertige Wesen (in Voegelins Terminologie: das Problem der „Erfahrung vom Nebenmenschen“) mit Hilfe der Mythengeschichte zu lösen. Voegelins Argumentation enthält eine Reihe von Schwachpunkten. Die erste Schwierigkeit bildet der Begriff des „Erfahrungsfaktums“. Obwohl wir, wie auch Voegelin einräumt, von unseren Mitmenschen keine innere Erfahrung haben, sollen wir dennoch durch ein Erfahrungsfaktum unmittelbar davon in Kenntnis gesetzt sein, dass sie ein Innenleben haben. Nun mögen wir zwar intuitiv den Eindruck haben, dass in unseren Mitmenschen auch ein denkendes und fühlendes Bewusstsein steckt, aber die Berufung auf die Intuition ist auch dann noch ein schwaches Argument in der Erkenntnistheorie, wenn sie hochtönend als „Fundamentalcharakter“ der „Transzendenzfähigkeit“[201] des Bewusstseins etikettiert wird. Der Einwand gegen Husserl, dass sich das Du nicht im Ich konstituiert, ist dagegen durchaus angebracht, denn das Bewusstsein kann unmöglich durch Konstitution etwas hervorbringen, was außerhalb seiner selbst existiert. Als geradezu abwegig erscheint allerdings Voegelins Behauptung, dass dieses erkenntnistheoretische Problem nur im Rahmen der altertümlichen Gleichheitsmythen behandelt werden kann. Weder für die Formulierung dieses erkenntnistheoretischen Problems noch erst recht zu seiner Lösung ist der Rückgriff auf die Mythengeschichte notwendig oder auch nur hilfreich.

Der zweite Schwachpunkt von Voegelins Argumentation liegt in seiner Annahme, dass die moralische Gleichheit aller Menschen nur im Rückgriff auf alte Mythen artikuliert werden kann. Bei der Behandlung dieser moralphilosophischen Problematik müssen drei unterschiedliche Ebenen klar voneinander getrennt werden: Die Ebene der Begründung von Werten, die Ebene der Artikulation bzw. Formulierung der Werte und die Ebene der Vermittlung und Verbreitung der Werte. Für die Begründung des Gleichheitswertes kann die Mythengeschichte offensichtlich nicht herangezogen werden. Wenn die moralische Gleichheit der Menschen nämlich im Sinne einer moralischen Intuition auf einem „Erfahrungsfaktum“ beruht,[202] dann besteht die einzig ehrliche Weise, diesen Wert zu begründen, darin, auf diese Intuition bzw. diese Erfahrung hinzuweisen, und gegebenenfalls die Begleitumstände zu beschreiben, unter denen sie zustande kommt oder in besonders deutlicher Weise hervortritt.

Die Formulierung des Gleichheitswertes ist mit und ohne Rückgriff auf Mythen möglich. Ohne Rückgriff auf die Mythologie kann sie beispielsweise durch die Worte erfolgen: „Alle Menschen sind gleich“. Bereits mit diesen schlichten Worten ist der Inhalt der Gleichheitsidee vollständig und ohne jede Mythologie ausgedrückt. Eine Artikulation unter Rückgriff auf die Mythologie könnte durch Erzählung der Geschichte von Adam und Eva erfolgen. Allerdings bliebe, wegen der grundsätzlichen Vieldeutigkeit des Mythos, die Gleichheitsbotschaft dann möglicherweise undeutlich. Dass man mit dem Hinweis auf den Mythos von Adam und Eva ebensogut die Ungleichheit begründen kann, führt uns z.B. Sir Robert Filmer vor Augen, der damit auf eine zu seiner Zeit durchaus übliche Weise das Gottesgnadentum der Könige rechtfertigte.[203] Analoges gilt für das Problem der Vermittlung des Gleichheitswertes. Zu der Zeit, als Voegelin den Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ niederschrieb, war das Mythologische einigermaßen in Mode. Nicht zuletzt durch die faschistischen Bewegungen wurde die Berufung auf den Mythos weidlich missbraucht, weshalb es aufgeklärten Autoren wie Thomas Mann notwendig erscheinen mochte, dass man den totalitären Mythen aufgeklärte Mythen entgegen stellen müsse, um das Verständnis für die Urwahrheiten des menschlichen Zusammenlebens wiederzuerwecken.[204] Voegelin klingt freilich wesentlich weniger aufgeklärt, wenn er wortwörtlich schreibt, dass der Ordnungswille „nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat“.[205] Hier scheint eher noch ein Rest von dem faschistischen Gedankengut durchzuklingen, das Voegelin in seiner autoritären Phase in den 30er Jahren absorbiert hatte.[206] Aus heutiger Sicht muss ein Ordnungswille, der im „Gemeinschaftsmythos“ wurzelt, in höchstem Maße suspekt erscheinen.

Wie man sieht, ist also der Rückgriff auf die Mythengeschichte für die Begründung und Artikulation des Gleichheitsideals in Wirklichkeit keineswegs erforderlich und höchstens mit Einschränkungen nützlich. Voegelins Argument dafür, das er im Gegenteil unerlässlich sei, ist historischer Art und besteht - wie zuvor ausgeführt - in der Behauptung, dass alle Gleichheitsideen Derivate jener beiden Urmythen der Abstammung von einer Mutter oder der Prägung durch einen Vater sind.[207] Inwieweit dies historisch richtig und zwingend ist, sei dahingestellt. Für Voegelin war diese Vorstellung wohlmöglich deswegen attraktiv, weil sie ihm erlaubte, eine Analogie zum Leib-Geist-Dualismus herzustellen, indem der eine Mythos ein leiblicher und der andere ein geistiger ist. Aber selbst wenn Voegelins historische These richtig sein sollte, so folgt daraus nicht, dass die Gleichheitsidee niemals etwas anderes sein kann als ein Derivat dieser Urmythen. Insbesondere kommt es bei der moralphilosophischen Diskussion der Gleichheitsidee nur auf den Inhalt und die Begründung dieser Idee an. Diese sind aber von der Entstehungsgeschichte unabhängig, so dass die Diskussion darüber unbekümmert um die Geschichte der Mythologie geführt werden kann.

Nicht nur Voegelins Ausführungen zur Mythensymbolik sondern auch seine Interpretation der Prozesstheologie wirft einige Fragen auf. Vor allem Voegelins Annahme, dass die Prozesstheologie einen Bereich von „ontologischen Erfahrungen“[208] auslegt, bedarf der Klärung. Denn der Begriff der Erfahrung wird mit dieser Annahme stark überstrapaziert. Das Wissen um die Stufen des Seins ist deskriptives Wissen, das sich bestenfalls auf die Erfahrung stützt, das aber über die unmittelbare Erfahrung weit hinaus geht. Auch dass die meditative Erfahrung ein Wissen vom Seinsgrund vermittelt, muss als höchst zweifelhaft angesehen werden, sofern „Seinsgrund“ ein ontologischer Begriff ist und nicht nur ein Name für die meditative Erfahrung selbst, wie Voegelins spätere Theorie der „Indizes“ des Bewusstseins dies nahelegt.[209] Im letzteren Fall bestünde dann allerdings auch keine „Nötigung“ mehr, sondern es wäre im Gegenteil sogar ganz und gar unmöglich, den ontologischen Seinsprozess in einem „Seinsgrund“ außerhab des Bewusstseins entspringen zu lassen. Wird jedoch auf diese Weise in Zweifel gezogen, dass es eine privilegierte Klasse ontologischer Erfahrungen gibt, dann bleibt auch die Prozesstheologie, die Voegelin skizziert, als eine bestimmte ontologische Theorie in vollem Umfang durch die Erkenntniskritik angreifbar.

Abgesehen von diesen Schwierigkeiten bleibt auch der Sinn und Zweck der Prozesstheologie im Unklaren. Voegelin zufolge geht die Prozesstheologie aus von der Frage: „ `Warum ist etwas, warum ist nicht Nichts?' “[210] Allerdings unternimmt die Prozesstheologie dann keinen ernsthaften Versuch, diese Frage zu beantworten. Eher scheint sie darauf hinauszulaufen, das Gefühl des Staunens bzw. der Verblüffung, das in jener Frage liegt, zu artikulieren. Wenn sich aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht mit dem erkenntnistheoretischen Befund der Unbeantwortbarkeit dieser Frage zufrieden geben will, wie Voegelin - nicht unplausibel - vermutet,[211] warum sollte sie sich dann mit der Prozesstheologie, die diese Frage auch nicht beantworten kann, abspeisen lassen?

Hinsichtlich der Einbettung der Bewusstseinsphilosophie in die Ontologie, wie sie Voegelin im letzten Abschnitt seines Aufsatzes vollzieht, sind vor allem die zwei Thesen zu prüfen, dass die ontologische Problematik die Voraussetzung der Erkenntnistheorie bzw. Bewusstseinsphilosophie bildet, und dass der Mensch sich auf sein Bewusstsein und sein Wesen nur orientierend besinnen aber es niemals zu einem Gegenstand äußerer Beschreibung machen kann.

Die erste dieser Thesen ist auch für Voegelins wissenssoziologische Erklärungen von Bedeutung, denn nur, wenn sie bejaht wird, kann der „Versuch einer `radikalen' Bewusstseinsphilosophie aufklärungsbedürftig“[212] erscheinen. In einer bestimmten Hinsicht kann die Triftigkeit von Voegelins Einwand gegen die reine Bewusstseinsphilosophie kaum bestritten werden. Die Erklärung der meisten Bewusstseinsvorgänge dürfte nur schwer möglich sein, ohne auf die Tatsache zurückzugreifen, dass es sich um das Bewusstsein eines Menschen handelt, der in einer materiellen Außenwelt lebt. So ist etwa das gelegentliche Auftreten des Bewusstseinsphänomens „Hunger“ nur verständlich, wenn man die Selbstverständlichkeit berücksichtigt, dass das Bewusstsein, in dem es auftritt, das Bewusstsein eines Lebewesens ist, welches von Zeit zu Zeit der Speise und des Tranks bedarf. Auch darf wohl behauptet werden, dass ontologische Fragen insgesamt relevanter sind als nur rein bewusstseinsphilosophische Probleme, denn der Erhalt und die Wohlfahrt unseres Lebens hängt von dem ab, was in der Welt geschieht und nicht von dem, was sich davon im Bewusstsein spiegelt. Insofern spricht für Voegelins kritische Einstellung gegenüber der reinen Bewusstseinsphilosophie auch eine starke intuitive Plausibilität.

Aber ist damit auch die Möglichkeit einer reinen, d.h. ausschließlich introspektiven Beschreibung der Bewusstseinsvorgänge ausgeschlossen? Und muss die Erkenntnistheorie nun doch, trotz der drohenden Gefahr von Begründungszirkeln, ein Wissen um die Außenwelt voraussetzen? In dieser Hinsicht scheint Voegelins These unzureichend begründet zu sein. Auch wenn viele Bewusstseinsvorgänge losgelöst von der Außenwelt nur schwer zu deuten sein dürften, so bleibt doch die Möglichkeit, das Bewusstsein als reines Bewusstsein introspektiv zu beschreiben, immer noch bestehen. Sollte zur Beschreibung des reinen Bewusstseins als Prozess eine Form von Zeitlichkeit vorausgesetzt werden müssen, die nicht introspektiv erfahrbar ist, so genügt es, allein die Existenz dieser Form von Zeitlichkeit zu postulieren, ohne zugleich auch den Leib und die Geschichte vorauszusetzen. Eine solche Beschreibung des reinen Bewusstseins würde auch dann keine weiteren ontologischen Hypothesen voraussetzen, wenn es faktisch substanzidentisch mit seinem leiblichen Fundament (Gehirn) sein sollte. Dabei ist übrigens die Hypothese der Substanzidentität zum Verständnis „der Fundierung von Bewußtsein in Leib und Materie“[213] nicht einmal zwingend erforderlich, denn diese Fundierung könnte auch durch die Hypothese der kausalen Verursachung von Bewusstseinsphänomenen durch mit diesen nicht substanzidentische physische Phänomene erklärt werden. Die Erkenntnistheorie schließlich setzt schon deshalb nicht die Ontologie voraus, weil die erkenntnistheoretischen Probleme auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Gültigkeit, liegen als die ontologischen Probleme. Zwar ist das Faktum, dass es Erkenntnis und Wahrheit gibt, davon abhängig, dass es Lebewesen gibt, die erkennen können, aber die Gültigkeit von Erkenntnis und die Antwort auf die Frage, worin Wahrheit besteht und nach welchen Kriterien sie festgestellt werden kann, hängen nicht von diesen ontischen Voraussetzungen ab. Am leichtesten lässt sich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Damit der Satz „Zwei mal zwei ist vier.“ existiert, muss es wenigstens ein intelligentes Wesen geben, welches ihn denkt oder äußert,[214] und damit dieses Wesen existiert, müssen weitere ontische Voraussetzungen erfüllt sein. Die Wahrheit dieses Satzes hängt jedoch von keiner dieser Voraussetzungen ab.[215]

Wie verhält es sich mit Voegelins zweiter These, dass das Bewusstsein sich nicht selbst wie einen Gegenstand betrachten kann? Voegelin führt als Grund für diese These an, dass die Bewusstseinsphilosophie „ein spätes Ereignis in der Biographie des Philosophen ist“, welches wiederum ein Ereignis in der Geschichte seiner Gemeinschaft, in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte des Kosmos ist. Aber diese Begründung ist wenig stichhaltig und dürfte eher einer holistischen Überzeugung Voegelins geschuldet sein als auf rationaler Überlegung beruhen. Jeder noch so profane Gegenstand hat auch seine Vorgeschichte im Kosmos, und das Wissen über ihn hat eine Vorgeschichte in der Geschichte des menschlichen Wissens. Dennoch wird niemand bestreiten, dass es Gegenstände gibt, die vollständig erkannt werden können. Wenn irgendetwas nur historisch verstanden werden kann, so muss es dafür speziellere Gründe geben. Und außer dem Kosmos selbst gibt es vermutlich nichts, dessen Erkenntnis die Geschichte des gesamten Kosmos voraussetzt.

Problematisch ist auch jener Teil von Voegelins Aufsatz, in welchem er das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie in der Neuzeit historisch zu deuten versucht.[216] Wie bereits dargelegt, sind Erkenntnistheorie und mit gewissen Einschränkungen auch die Bewusstseinsphilosophie legitime Einzeldisziplinen der Philosophie, die nicht unbedingt als Teilgebiet einer allgemeinen Ontologie behandelt werden müssen. Ihr Auftreten ist daher bereits wesentlich weniger „aufklärungsbedürftig“ als Voegelin meint. Abgesehen davon bleibt es schleierhaft, woher Voegelin überhaupt die historische Aufgabe der Bewusstseinsphilosophie nimmt, eine neue Symbolik für religiöse Transzendenzerfahrungen zu suchen. Sofern Voegelin nicht wie Husserl die Existenz eines historischen Telos voraussetzen will, das jeden Philosophen verpflichtet, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, kann er den Philosophen kein Versäumnis vorwerfen, wenn sie sich für andere Fragen als die der Symbolisierung von Transzendenzerfahrungen interessieren. Freilich hat Voegelin das Recht, den Ausschluss der Besinnung auf Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie zu tadeln, wenn er selbst der Ansicht ist, dass dieses Thema in der Philosophie einen Platz haben sollte. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass andere Philosophen dies explizit ablehnen, und dass sie dazu mindestens ein ebensogutes Recht haben. Abgesehen davon existierten auch in der Neuzeit mit Religion und Theologie durchgängig geistige Disziplinen, die sich mit der Transzendenz beschäftigten und immer noch beschäftigen. Insofern ist es ein wenig voreilig, eine historische Krise der Symbole zu suggerieren. Schließlich ist anzumerken, dass gerade die Husserlsche Phänomenologie, welche sich noch am ehesten angeschickt hat, die Bewusstseinsphilosophie zum allumfassenden Universalparadigma auszuweiten, sich gegenüber dem religiösen Denken als sehr aufgeschlossen erwiesen hat.

Alles in allem leidet Voegelins Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ an auffällig vielen argumentativen Schwächen. An haltbaren Resultaten ist der Text außerordentlich arm. Dies mag damit zusammenhängen, dass er eher den Charakter einer persönlichen Besinnung als den einer philosophischen Argumentation hat. Von Voegelin war das durchaus intendiert, denn die philosophische Tätigkeit bestand für ihn vor allem in der meditativen philosophischen Besinnung. Nur stellt sich dann dem Leser irgendwann die Frage, warum er sich für die persönlichen Besinnungen des Herrn Voegelin eigentlich interessieren sollte, eine Frage, die sich noch mehr aufdrängt, wenn er dann zu den im Folgenden zu besprechenden „anamnetischen Experimenten“ Voegelins weiterblättert.

[199] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 454-469. Für die Kant-Apologetik stellvertretend: Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der „Kritik der reinen Vernunft“, Würzburg 1997, S. 742ff.- Dass Kant irrt, kann man sich leicht überlegen, wenn man bei den Antinomien genau darauf achtet, von welchen expliziten und impliziten Voraussetzungen Kant bei seinen Beweisen jeweils ausgeht. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen auszuführen.

[200] Vgl. Jürgen Schmidt: Mengenlehre (Einführung in die axiomatische Mengenlehre). I. Grundbegriffe, Mannheim 1966, S. 22-24.

[201] Voegelin, Anamnesis, S. 47.

[202] Im Bereich der Ethik ist anders als in der Erkenntnistheorie die Berufung auf die Intuition unter Umständen legitim. Es stellt sich dann nur die Frage, inwieweit intuitiv begründete Werte intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen dürfen.

[203] Vgl. Sir Robert Filmer: Patriarcha, or the Natural Power of Kings, England 1680.

[204] Den zeitgeschichtlichen Bezug seiner Josephs-Romane hat Thomas Mann in einer späteren Selbstdeutung auf die Formel gebracht, dass der „Mythos .. in diesem Buch dem Fascismus aus den Händen genommen“ wurde. (Thomas Mann: Joseph und Seine Brüder (Vortrag in der Library of Congress am 17.11.1942), in: Thomas Mann: Essays. Band 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945. (Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski), Frankfurt am Main 1996, S. 185-200 (S. 189).) - Neben den Josephs-Romanen wäre in diesem Zusammenhang auch Thomas Manns biblische Erzählung „Das Gesetz“ zu nennen.

[205] Voegelin, Anamnesis, S. 50.

[206] Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, a.a.O.

[207] Dass sich - so das andere Argument, das aus Voegelins Text extrahiert werden kann - aus dem von Voegelin behaupteten Ausdruckskonflikt bei der Artikulation unendlicher Prozesse für diesen Fall kein notwendiger Grund für den Gebrauch der Mythensymbolik ableiten lässt, wurde bereits erwähnt.

[208] Voegelin, Anamnesis, S. 54.

[209] Siehe Kapitel 5.4

[210] Voegelin, Anamnesis, S.51. - Vgl. Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung, Zwölfte Vorlesung, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S.37855 / S.72 (Konkordanz: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig 1907. Band 3, S. 781).

[211] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 51.

[212] Voegelin, Anamnesis, S. 58.

[213] Voegelin, Anamnesis, S. 55.

[214] Manche Philosophen glauben auch, dass Sätze wie dieser in einem platonischen Ideenhimmel existieren. Die Sätze würden dann auch existieren, wenn es keine Menschen oder nicht einmal eine Welt gäbe.

[215] Man könnte nun vermuten, dass nicht die Wahrheit aber die Bedeutung eines Satzes von ontischen Voraussetzungen, z.B. von der Bedeutungsgeschichte der in ihm verwendeten Wörter abhängt. Aber die Art und Weise, wie die Bedeutung eines Wortes entstanden ist, stellt keine Bedeutungsvoraussetzung des Wortes dar, sondern lediglich eine kausale Voraussetzung der Entstehung der Bedeutung des Wortes.

[216] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58ff.

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