Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
    7.1 Abschließende Reflexion zur Entscheidungstheorie als Erklärung menschlichen Handelns
        7.1.1 Die drei zentralen Schwächen der formalen Entscheidugnstheorie
        7.1.2 Eine Frage der Haltung order warum schlechte Theorien so entschieden verteidigt werden
        7.1.3 Schlussfazit
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

7.1.1 Die drei zentralen Schwächen der formalen Entscheidugnstheorie

Aber zunnächst zu den intrinsischen Gründen. Es gibt drei wesentliche Eigenschaften der Entscheidungs- und Spieltheorie, die ihre Reichweite und Erklärungsfähigkeit von vorn herein drastisch einschränken und sie als umfassende Theorie menschlichen Handelns untauglich erscheinen lassen:

  1. Unrealistische Voraussetzungen: Die Axiome, die für menschliche Präferenzen gelten sollen, sind weit weniger plausibel als das auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Insbesondere ist die Annahme vollständig geordneter und transitiver Präferenzen empirisch zweifelhaft und wahrscheinlich nicht einmal normativ sinnvoll. Ihre theoretische Rechtfertigung durch solche Überlegungen wie das Geldpumpenargument bleibt hochgradig artifiziell. Argumente dieser Art haben eher den Charakter eines Mythos (d.i. ein Narrativ, der autoritative Gültigkeit beansprucht und von der Gemeinschaft, deren Grundüberzeugungen es artikuliert, nicht hinterfragt wird). Ohnehin bleibt es ein fragwürdiges Unterfangen, empirische Theorien theoretisch beweisen zu wollen.

    (Im Allgemeinen bekennt sich die Volkswirtschaft zur Empirie, aber es gab und gibt immer wieder starke rationalistische Strömungen, die darauf zielen, die Richtigkeit ihrer Annahmen a priori und aus ersten Prinzipien ableiten zu wollen. Bekanntester historischer Vertreter dieser Tendenz ist Ludwig von Mieses.)

    Hinzu kommt, dass sich zyklische, und damit nicht-transitive Präferenzen manchmal auf ganz natürliche Weise ergeben können, wie z.B. beim Knobeln: Stein schleift (sprich: ist vorzuziehen gegenüber) Schere, Schere schneidet Papier, aber Papier wickelt Stein.

     
  2. Fehlende messbare Größen: Die zentrale Größte, auf der praktisch alle "Gesetzmäßigkeiten" der Spiel- und Entscheidungstheorie beruhen, sind die Nutzenwerte. Weder für den ordinalen noch für den kardinalen gibt es auch nur halbwegs präzise Messmethoden. Da sie zudem (siehe Punkt 1) auf unrealistischen Voraussetzungen beruhen, erscheint es mehr als zweifelhaft, ob sie als reale Größen überhaupt existieren. Aber selbst wenn man annimmt, das sie keine reine Fiktion sind, sondern als (bis auf Weiteres) "versteckte" Größen tatsächlich existieren, so führt das fehlen präziser Messverfahren dazu, dass die Entscheidungs- und Spieltheorie empirisch nicht wirklich überprüfbar ist, und damit - nach dem Popperschen Falsifikationskriterium - eigentlich nicht einmal als wissenschaftlich gelten dürften.

    In der Praxis kann man Modelle die sich auf sie stützen ggf. immer noch indirekt überprüfen, sofern sich aus ihnen empirisch entscheidbare Konsequenzen ableiten lassen. Es wird dann gerne so argumentiert, dass es nur auf die Richtigkeit der Prognose und nicht so sehr auf den Realismus oder auch nur die Gültigkeit der Voraussetzungen ankomme (so etwa Milton Friedmann). Diese Rechtfertigung wäre dann überzeugend, wenn uns die Volkswirtschaftslehre regelmäßig mit erstklassigen Prognosen beliefern würde. Das ist aber gerade nicht der Fall. Das Kriterium der erfolgreichen Prognosefähigkeit taugt daher am allerwenigsten zur wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung der Entscheidungs- und Spieltheorie. Es würde eher noch gegen diese Theorien als dafür sprechen.

     
  3. Performative Selbstwidersprüchlichkeit: Aus den Voraussetzungen der Entscheidungstheorie folgt, dass die Bedingungen für ihre Anwendbarkeit im Normalfall nicht gegeben sind. Dabei handelt es sich um eine unmittelbare aber, wegen ihrer unerfreulichen Botschaft nur selten thematisierte Konsequenz des Satzes von Arrow, wenn man ihn auf multikriterielle Entscheidungsprobleme anwendet.

    Wegen der Wichtigkeit dieses zentralen Problems der Entscheidungstheorie, sei die Argumentation an dieser Stelle noch einmal wiederholt: Sofern man überhaupt zugesteht, das nicht alle Präferenzen über alle Gegenstände oder "Güterbündel" sofort da sind, sondern dass zumindest einige Präferenzen erst aus anderen gebildet werden, tritt das an folgendem Beispiel veranschaulichte Problem auf:

    Jemand möchte einen Kühlschrank kaufen, weiß aber nicht, welches von mehreren zur Auswahl stehenden Modellen für ihn oder sie das geeignetste ist. Die Person möchte, dass der Kühlschrank billig, energiesparend und zuverlässig ist. Hinsichtlich jeder dieser Kriterien oder auch "Dimensionen" könnte user Käufer bzw. unsere Käuferin die Kühlschränke in der präferierten Weise anordnen. Aber bei dem Versuch eine Präferenzordnung über die Kühlschränke zu bilden, die alle drei Dimensionen auf einmal berücksichtigt, zeigt der Satz von Arrow, dass sich im Allgemeinen keine Präferenzordnung finden lässt, die noch allen Axiomen genügt, die per Definition für Präferenzen gelten müssen.

    Da solche multikriteriellen Entscheidungsprobleme eher die Regel als die Ausnahme sein dürften, heißt das, dass aus den Grundannahmen (Axiomen) der Entscheidungstheorie folgt, dass in vielen in der Praxis auftretenden Entscheidungssituationen eben diese Grundannahmen nicht gelten können bzw. das eine widerspruchsfreie Anwendung der Entscheidungstheorie oft nicht möglich ist.

    Wie bei der Sozialwahltheorie kann man dann eine Vielzahl möglicher Auswege finden, die aber in der ein- oder anderen Weise eine Aufweichung der Axiome erfordern, was zeigt, dass man die Gültigkeit dieser Axiome eben nicht dogmatisch voraussetzen darf.

Fasst man diese drei Punkte zusammen, so haben wir es bei der Entscheidungs- und Spieltheorie also mit einer Theorie zu tun, die erstens auf unrealistischen Annahmen, und zweitens auf nicht messbaren Größen beruht, und die drittens darüber hinaus noch partiell selbstwidersprüchlich ist! Es ist offensichtlich, dass eine Theorie, die diese drei Eigenschaften vereint, eine ziemlich miserable Theorie ist.

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