Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
        3.2.1 Vorüberlegung zu Gehlens Methode: Entlarvungstechnik und empirische Ethik
            Die Entlarvungstechnik in der Ethik
            Empirische Ethik
        3.2.2 Kritik des historischen Argumentes
        3.2.3 Kritik des politischen Argumentes
        3.2.4 Kritik des anthropologischen Argumentes
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

Die Entlarvungstechnik in der Ethik

Ein Teil der Vorwürfe, die Gehlen gegen das Humanitätsethos vorbringt, besteht darin, daß Gehlen bei den Vertretern des Humanitätsethos unredliche Motive wie übermäßige Geltungssucht, sinnlose Zerstörungswut oder opportunistisches politisches Kalkül aufdecken zu können glaubt. Gehlen folgt damit einem in der Philosophie des öfteren verwendeten Verfahren der Moralkritik, welches man als Entlarvungstechnik bezeichnen kann. Das Vorbild der Entlarvungstechnik als Methode der Moralkritik liefert Friedrich Nietzsche in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“, worin Nietzsche die christliche Nächstenliebe als „Sklavenmoral“ denunziert, die von Schwächlingen zu dem eigennützigen Zweck erfunden wird, die Starken und Schönen, die „blonden Bestien“, wie Nietzsche sie, wohlmöglich in Anspielung auf die (blonde ?) Mähne von Löwen,[44] nennt, im genüßlichen Gebrauch ihrer brutalen Kräfte zu hemmen.[45] Grundsätzlich wird bei der Entlarvungstechnik eine bestimmte Moral nicht dadurch kritisiert, daß gezeigt wird, daß sie zu anderen, höherrangigen moralischen Werten in Widerspruch steht oder bei ihrer Anwendung zu (moralisch) untragbaren Zuständen führt, sondern es wird versucht, den Nachweis zu erbringen, daß ihre philosophischen Vertreter ein bestimmtes, meist egoistisches, in jedem Falle aber moralfremdes Interesse verfolgen, wenn sie diese Moral einfordern, wobei es sich bei diesen Interessen dann in der Regel nicht um offen liegende sondern um vermutete latente Interessen handelt. Eine andere Variante der Entlarvungstechnik ist die von manchen Marxisten gebrauchte, Moral generell als ideologischen Überbau über ökonomischen Verhältnissen zu betrachten.[46] Es genügt dann, den gesellschaftlichen Standpunkt (bürgerlich oder proletarisch) eines Philosophen festzustellen, und man weiß, was man von dessen Ethik zu halten hat. Gehlen selbst übernimmt sogar bestimmte Nietzeanische Denkfiguren, wenn er das Vorgehen der kynischen oder stoischen Philosophen als die „Eroberung der Eroberer“ deutet.

Die Entlarvungstechnik hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Selbst wenn wir sicher wissen, welche unredlichen Motive einen Philosophen zur Aufstellung bestimmter moralischer Grundsätze bewegt haben, so sagt dies noch längst nichts darüber aus, ob diese Grundsätze gut oder schlecht begründet sind, und ob sie nicht vielleicht trotz der tadelnswerten Absichten des Philosophen dasjenige wiedergeben, was objektiv moralisch richtig ist. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wenn die Entlarvungstechnik uns etwas über die moralische Richtigkeit einer ethischen Auffassung mitteilen könnte, dann würde ein und derselbe moralische Imperativ gültig oder ungültig sein je nachdem, von wem er gerade geäußert wird, was offensichtlich absurd ist. Mit Hilfe der Entlarvungstechnik kann man daher keinerlei Feststellungen über die Gültigkeit sittlicher Urteile treffen. Darüber hinaus schleichen sich bei der exzessiven Verwendung dieser Technik oft noch andere Fehler ein. So werden recht häufig die moralfremden Interessen mehr unterstellt als schlüssig nachgewiesen, was auch schwierig genug wäre. Bei Gehlen tritt letzteres besonders deutlich in der Ungerechtigkeit hervor, mit der er den Theologen Karl Barth behandelt.

Trotz aller Kritik gegen die Entlarvungstechnik muß dennoch eingeräumt werden, daß sie für bestimmte Zwecke durchaus von Nutzen sein kann. So kann uns die Entlarvungstechnik oft auf die die richtige Fährte führen, wo die Schwächen einer ethischen Theorie zu suchen sind. Auch kann sie, wenn und nachdem wir festgestellt haben, daß ein Philosoph ziemlich irrige Moralvorstellungen entwickelt hat, helfen zu erklären, wie diese Irrtümer zustande gekommen sind.

Insgesamt bleibt jedoch festzustellen, daß Gehlen, soweit er nur die Vertreter des Humanitätsethos in schlechtem Licht erscheinen läßt, noch keinen Grund gegen die Gültigkeit dieses Ethos vorgebracht hat. Ebensowenig sagt die Feststellung, daß das Humanitätsethos in geschichtlichen Dekadenzperioden entstanden ist, etwas über die moralische Richtigkeit oder Falschheit dieses Ethos aus.

[44] So zumindest die wohlwollende Deutung dieses Ausdrucks durch Volker Gerhardt unter Verweis auf D.Brennecke im Nachwort zu: Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Stuttgart 1993, S.171-187 (S.184).

[45] Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, a.a.O, S.26ff. (Erste Abhandlung, 10.Abschnitt.)

[46] Vgl. die Stichworte Moral und Moralphilosophie in: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Band 2, Leipzig 1975, S.823-826.

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