Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
        3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz
        3.1.2 Das politische Argument: Humanismus als Gefahr für die Staatstugenden
        3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als überdehntes Familienethos
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik

In dieser Arbeit wird, wie bereits im Vorwort erwähnt, Gehlens Kritik am „Humanitarismus“ als ein Angriff auf die Ethik des Humanismus verstanden. Dazu muß zunächst untersucht werden, ob sich Gehlens Begriff des „Humanitarismus“ überhaupt mit der humanistischen Ethik deckt, oder ob Gehlen nicht eine Übersteigerungsform des Humanismus kritisiert, die auch kein überzeugter Humanist ernsthaft vertreten würde.

Gehlen definiert im 5.Kapitel seines Werkes „Humanitarismus“ als „die zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe“.[21] Mit „unterschiedslos“ ist hierbei gemeint, daß die Menschenliebe sich auf die gesamte Menschheit erstrecken soll und damit „unterschiedslos“ sowohl Angehörigen des eigenen Stammes, der eigenen Familie oder der eigenen Nation als auch „fremden“ Menschen, die nicht zu diesen Nahgruppen gehören, zukommt. Weiterhin soll sich die „unterschiedslose Menschenliebe“ auf die Angehörigen aller sozialer Klassen, auf Sklaven gleichermaßen wie auf „Patrizier“ beziehen.[22] Nun gehört aber gerade der Universalismus wesentlich zur humanistischen Ethik. Unter humanistischer Ethik verstehe ich dabei die Auffassung, daß jedem Menschen als Individuum ein besonderer Wert (Menschenwürde) zukommt, und daß es keinen Wert gibt, der über dem Wert des Individuums steht. Solche Werte, die mit der Menschenwürde konkurrieren könnten, wären beispielsweise Nation, Geschichte, Ehre etc. Diese Werte sind nach der humanistischen Ethik bloß sekundär in dem Sinne, daß sie entweder mittelbare Werte sind, denen gegenüber das Wohl der einzelnen Menschen als Endzweck zu betrachten ist, oder daß sie untergeordnete Werte sind, denen im Falle eines Wertekonfliktes die Menschlichkeit unbedingt vorhergeht. Dies ist der Kern jeder humanistischen Ethik. Ein Humanismus, der sich nicht auf die gesamte Menschheit bezieht, sondern an den Grenzen der Nation haltmacht oder nur für die eigene Sippe gilt, wäre dagegen eine contradictio in adjecto. Genau dieser universalistische Zug der humanistischen Ethik und die Überordnung der Menschenliebe über alle anderen Werte sind es jedoch, die Gehlen unter der Bezeichnung „Humanitarismus“ als eine Form von „Moralhypertrophie“ ausdrücklich ablehnt. Gehlens Kritik des „Humanitarismus“ muß daher in der Tat als ein Angriff auf die humanistische Ethik verstanden werden.

Welches sind nun die Argumente mit denen Arnold Gehlen gegen den Humanismus zu Felde zieht? Es lassen sich in Gehlens Werk drei Hauptargumentationsstränge ausmachen:

  1. Ein historischer Argumentationsstrang: Gehlen zufolge zeigt sich der „Humanitarismus“ zuerst in der griechischen und römischen Antike und zwar als typische Erscheinung der Verfallsperioden dieser Epochen. Die humanistische Ethik erscheint ihm daher als ein Symptom und gleichzeitig eine Ursache von Dekadenz.
     
  2. Ein politischer Argumentationsstrang: Die humanistische Ethik ist nach Gehlen mit machtpolitischen Notwendigkeiten unvereinbar. Dringt sie in die Politik ein, so gefährdet sie den Selbsterhalt von Staat und Nation.
     
  3. Ein anthropologischer Argumentationsstrang: Das Ethos der Menschenliebe leitet Gehlen aus den biologischen Schonungs- und Liebesinstinkten innerhalb der Familie als natürlicher Lebensgemeinschaft her. Durch „Instinktelargierung“, einer spezifisch menschlichen biologischen Eigenschaft, wird dieser Instinkt nach und nach auf größere Gruppen ausgedehnt, bis hin zu abstrakten Gruppen, deren Mitglieder untereinander nicht mehr persönlich bekannt sind, wie der Nation und schließlich der gesamten Menschheit. Da es, anthropologisch gesehen, noch andere Quellen der Moral gibt (Gegenseitigkeit, vitale Werte, Institutionen[23] ), die als „Sozialregulationen“ nicht minder lebensnotwendig sind, darf die humanistische Ethik keine Alleingültigkeit beanspruchen.

Die oben kurz skizzierten Argumente Gehlens sollen nun im einzelnen ausgeführt werden.

[21] Ebda., S.79.

[22] Vgl. dazu besonders Gehlens Ausführungen zum antiken Ursprung des „Humanitarismus“ in den ersten beiden Kapiteln des Werkes, worin diese Bedeutungselemente von „Humanitarismus“ deutlich auszumachen sind, ebda., S.13-36. Weiterhin geht der universalistische Charakter, den Gehlen im „Humanitarismus“ feststellt, aus seiner anthropologischen Erklärung des Humanitarismus als eines „elargierten“ Familienethos hervor. - Vgl. ebda., S.83ff.

[23] Vgl. ebda., S.47.

t g+ f @