Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend

Abschließend soll wenigstens kurz skizziert werden, wie eine humanistische Ethik unter sinnvoller Berücksichtigung der Gehlenschen Kritik konstruiert werden kann, ohne daß dabei die Grundprinzipien der humanistischen Ethik aufgegeben werden. Dafür muß berücksichtigt werden, daß eine unmittelbare und unbegrenzte Umsetzung humanitärer Prinzipien nicht in jeder Situation oder in jedem Bereich des Handelns ohne weiteres möglich ist. Es heißt jedoch weder das Prinzip der Humanität aufgeben noch den kollektiven Selbstmord riskieren, wenn man in diesen Fällen immer noch eine maximale Beachtung humanitärer Prinzipien fordert. Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, daß die Ethik einer Gesellschaft, wenn man die ethischen Normen als Sozialregulationen auffaßt, nicht ausschließlich auf humanitäre Tugenden gegründet werden kann. Sekundärtugenden wie Fleiß, Disziplin, Pflichterfüllung und Gehorsam im Sinne der Respektierung legitimer und wohlbegründeter Autorität sind unerläßlich. Der Humanismus kann diesen Notwendigkeiten Rechnung tragen, wenn er die Sekundärtugenden zuläßt (was er für gewöhnlich tut), soweit ihre Erfüllung nicht den Forderungen der Menschlichkeit widerspricht. Schließlich muß die Gefahr des Moralismus berücksichtigt werden. Dieser Gefahr, der nicht allein die humanistische Ethik ausgesetzt ist, läßt sich mit etwas intellektueller Disziplin dadurch begegnen, daß man nicht jeden Bagatellfall gleich als Angriff auf die Menschenwürde interpretiert. Hierbei können Sekundärtugenden im Übrigen sogar hilfreich sein, da sie solche weniger gravierenden Problemfälle gewissermaßen abfangen. Eine Beleidigung beispielsweise wäre dann in erster Linie ein Verstoß gegen die Höflichkeit und nicht schon gegen die Menschenwürde, auf die sie nur unter einiger Überstrapazierung dieses Begriffs bezogen werden könnte.

Im Ergebnis erhalten wir auf diese Weise eine hierarchische Ethik. An der Spitze dieser Ethik steht die Würde und Gleichheit des Menschen. Andere Werte, seien sie ethischer oder anderer Natur, spielen die Rolle mittlerer Prinzipien oder sekundärer Tugenden, was bedeutet, daß sie höchstens insoweit Gültigkeit beanspruchen können, als sie zu dem Humanitätsethos nicht im Widerspruch stehen. Im Konfliktfall hat immer die Menschlichkeit das letzte Wort, sie ist in diesem Sinne Primärtugend. Die Humanität muß jedoch, um unter realistischen Bedingungen anwendbar zu sein, verantwortungsethisch, d.h. als prinzipiell einer utilitaristischen Abwägung gegenüber sich selbst fähig gedacht werden. Die hierarchische Ethik macht sich so die Vorteile von Gehlens ethischem Pluralismus (relativer Schutz vor Moralismus, eine der Differenziertheit des gesellschaftlichen Lebens angemessene Vielfalt von Prinzipien) zu eigen, aber sie vermeidet seine Nachteile (Möglichkeit „tragischer Situationen“, Verwirrung in Bezug auf die unterschiedliche Wichtigkeit verschiedenartiger Werte, Gefahr der Verselbständigung bestimmter gesellschaftlicher Funktionen wie der Sicherheitspolitik).

Es ist dabei zu trennen zwischen Humanismus und humanistischer Ethik. Zwar geht die humanistische Ethik aus dem Humanismus als einem durch Selbsterziehung anzustrebenden und durch Bildung vermittelten Ideal harmonisch hervor, doch auch wenn man, wie Gehlen, im Humanismus die Gefahr eines in die Sinnleere menschlicher Selbstbezogenheit führenden Ideals sieht, so muß man deswegen noch nicht die humanistische Ethik verwerfen.

t g+ f @