Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“

Im Jahre 1968 erschien Gehlens Schrift „Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik“.[14] Gehlen beabsichtigt darin, die anthropologischen Grundlagen der Ethik als eines spezifisch menschlichen Phänomens darzulegen und mehrere typische Ethosformen, darunter insbesondere die des „Humanitarismus“ als der „zur ethischen Pflicht gemachte[n] unterschiedslose[n] Menschenliebe“[15] , sowohl anthropologisch abzuleiten, als auch in ihrer kulturellen Funktion und Wirkung zu deuten. Das Resultat dieser Bemühungen ist, wie der Untertitel seines Werkes sagt, eine „pluralistische Ethik“. Mit dieser Bezeichnung ist weder eine Ethik der besonderen Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensauffassungen gemeint, noch versteht Gehlen darunter, daß es etwa unterschiedliche aber gleichermaßen legitime Moralauffassungen gibt. Vielmehr bedeutet „ethischer Pluralismus“[16] , daß es verschiedene Ethosformen mit unterschiedlichem anthropologischen Ursprung gibt, die jedoch nur jeweils für einen bestimmten Bereich des menschlichen Handelns gültig sind. So ist etwa das „Familienethos“ nur für die Familie gültig, keineswegs jedoch für den Staat und die Politik, denn dort gelten die „Staatstugenden“. Die Grenzen zwischen den Gültigkeitsbereichen dieser Ethosformen sind unscharf, so daß es zwischen verschiedenen Ethosformen immer wieder zu Konflikten kommen kann, die theoretisch unauflösbar sind, da nach Gehlens Auffassung kein Ethos grundsätzlich die Vorherrschaft über ein anderes beanspruchen darf. Im Alltagsleben werden diese Gegensätze in der Regel im dort herrschenden „Durcheinander, mittlerer Tugendhaftigkeit“[17] durch moralische Inkonsequenz ausgeglichen. Für problematisch, um nicht zu sagen gemeingefährlich, Gehlen, wenn ein bestimmtes Ethos mit dem Anspruch der universellen Gültigkeit auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausgedehnt wird, so wie sich dies seiner Ansicht nach in der Gegenwart mit dem „Humanitarismus“ vollzieht. In dieser Ausweitung sieht Gehlen nicht nur eine Radikalisierung, die Aggressionen freisetzt, sondern auch eine Gefahr für die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft, da nun ein Ethos gesellschaftliche Bereiche reguliert, für die es sachlich unpassend ist.[18]

Abgesehen von dieser philosophisch-anthropologischen Zielsetzung verfolgt Gehlen mit diesem Werk aber auch die Absicht einer polemischen Zeitkritik. Der Leser bekommt dabei sehr bald den Eindruck, daß gegenüber dieser Absicht die anthropologische Untersuchung nur beiläufig durchgeführt wird und eher als Vorwand dient zu einem gewaltigen Rundumschlag, in welchem Gehlen von der Antibabypille[19] bis zum Zensurverbot des Grundgesetzes[20] alle möglichen Gegenwartserscheinungen der politischen und gesellschaftlichen Kultur der Bundesrepublik in den ausgehenden 60er Jahren geißelt.

[14] Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Wiesbaden 5.Aufl., 1986.

[15] Ebda., S.79.

[16] Vgl. ebda., S.10.

[17] Ebda., S.26.

[18] Vgl. ebda., S.70ff.

[19] Vgl. ebda., S.83.

[20] Vgl. ebda., S.151. - Gehlen nimmt hier irrtümlich an, daß das Zensurverbot die Verantwortlichkeit des Autors ausschließt. Dies gilt jedoch noch nicht einmal im rechtlichen Sinne, da der Autor nachträglich immer noch zur Verantwortung gezogen werden kann, etwa durch eine Verleumdungs- oder Beleidigungsklage. Unter Zensur versteht man im rechtlichen Sinne ausschließlich die Kontrolle einer Schrift vor ihrem Erscheinen mit der möglichen Folge eines Erscheinungsverbotes. Dies allein wird durch Art. 5 GG Abs. 1 Satz 3 ausgeschlossen. Abgesehen von der rechtlichen Verantwortung muß auch der Journalist oder Buchautor ähnlich wie der Fabrikant auf dem Markt bestehen. Sein Handeln ist also nicht folgenlos, wie Gehlen dies notorisch unterstellt. Einleuchtend ist jedoch, daß ein politischer Autor in der Regel nicht in die Situation gerät, die Folgen der Verwirklichung seiner Empfehlungen tragen zu müssen. In diesem Sinne wird in der Tat eine möglicherweise vorhandene Leichtfertigkeit seinerseits folgenlos bleiben. Dasselbe gilt auch für Philosophen, die Bücher über Ethik verfassen.

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