Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
        3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz
        3.1.2 Das politische Argument: Humanismus als Gefahr für die Staatstugenden
        3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als überdehntes Familienethos
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz

Historisch betrachtet hängt für Gehlen die Entstehung und Ausbreitung des „Humanitarismus“ mit dem Zusammenbruch der griechischen Stadtstaaten in der Spätantike und der Entstehung von zentralistisch regierten, multiethnischen Großreichen wie dem Alexanderreich zusammen. Später wurde er dann in das römische Kaiserreich exportiert.[24] Der „Humanitarismus“ wurde dabei nach Gehlens Auffassung von einem genau „angebbaren“ Personenkreis, nämlich den kynischen und stoischen Philosophen, erfunden und erfüllte innerhalb dieses historischen Prozesses ganz bestimmte ideologische Funktionen. Auch haften dem „Humanitarismus“ auf Grund seiner Entstehungsumstände gewisse typische Charakterzüge an.

Die Funktionen oder die Zwecke des „Humanitarismus“ sind dabei sowohl individueller als auch politischer Natur. Für das Individuum dient der „Humanitarismus“ der kompensatorischen Auffüllung einer durch den Zusammenbruch des Staates aufgerissenen emotionalen Lücke mit „verallgemeinerten Tugenden privater Herkunft, wie Wohlwollen, Hilfsbereitschaft usw.“.[25] Einher damit geht insbesondere bei den Kynikern ein gehöriges Maß an Primitivisierung, welches gegenüber den Anforderungen, die die gesellschaftlichen Institutionen im intakten Staatswesen an den Einzelnen stellen, zunächst als entlastend empfunden wird.[26] Gehlens Deutung dieser Erscheinungen ist aus seiner Institutionenlehre abgeleitet, nach der die Institutionen tief ins Verhalten und Gemütsleben des Einzelnen eingreifen und zugleich, ungeachtet ihrer primären Entlastungsfunktion, ihrerseits eine Belastung darstellen, von der sich der Mensch wiederum entlasten möchte. Da weiterhin höhere Leistungen des Menschen nur auf Grundlage und im Rahmen von Institutionen erbracht werden können, die dafür die Symbolgehalte vorgeben, bedeutet der Verlust oder der Zusammenbruch von Institutionen (egal welcher Institutionen) stets einen Rückfall in die Primitivität. Abgesehen von den bisher erwähnten Funktionen erfüllt der „Humanitarismus“ speziell für seine philosophischen Vertreter die Aufgabe ihnen Ansehen, Einfluß und Geltung zu verschaffen. Sie verfolgen damit, wie Gehlen unterstellt, eine Strategie der „Eroberung der Eroberer“, indem sie - gewissermaßen unter Verrat ihres geschlagen Vaterlandes - sich den neuen Herrschern der Großreiche andienen und durch die Predigt von Güte und Menschenliebe versuchen, Schonung für sich selbst zu erwirken. Gehlen versäumt es nicht, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß einige führende Kyniker davongelaufene Sklaven oder Menschen von einer ähnlich verachteten sozialen Herkunft sind.[27]

Neben diesen für einzelne Individuen nützlichen Eigenschaften erfüllt der „Humanitarismus“ nach Gehlen aber auch eine eminent politische Funktion: Er stützt mit seinem Weltbürgerethos die Bildung von nationenübergreifenden, zentralistisch regierten Vielvölkerstaaten ideologisch ab. Dies erreicht der „Humanitarismus“ in dem er die patriotischen Werte verdrängt und zugleich durch seinen eher der Privatsphäre entstammenden Wertekanon die Folgsamkeit der Untertanen sichert. Letzteres hängt damit zusammen, daß eine politische (Widerstands-)Bewegung, um zugkräftig zu sein, stets als Kollektivbewegung auftreten muß, wobei ein rein individualistischer Wertekanon hinderlich ist. Dennoch war das humanitäre Ideal in der Antike durchaus in der Lage Sklavenaufstände zu motivieren.[28]

Obwohl das Ethos der Humanität solcherart für bestimmte Systeme einen stärkenden und stabilisierenden Einfluß gewinnt, ist und bleibt es nach der Auffassung Gehlens andererseits ein Merkmal der Dekadenz - eine Deutung, die Gehlen von George Sorel übernimmt.[29] Als Dekadenzmoral lähmt der Humanitätsgedanke den Willen und hemmt die Bereitschaft zur Ausübung notwendiger Gewalt. Diesen Vorgang skizziert Gehlen am Beispiel des römischen Kaiserreiches, das seiner Meinung nach durch seine humanitäre Großzügigkeit in eine innere und äußere Krise geriet: „Die Eroberer und Feldherren waren Verirrungen auf dem Wege zum wahrhaft Guten - hundert Jahre später allerdings mußte Aurelian gegen die Barbaren schon die Hauptstadt selber ummauern, und von geordneten Finanzen war keine Rede mehr...“.[30]

Alle diese Einsichten, die Gehlen an einer Betrachtung der antiken Geschichte über den Charakter des humanitären Ethos gewonnen hat, überträgt Gehlen in einem zweiten Schritt auf die Gegenwart. Auch heute „sind nun bei uns unter dem Einfluß der beispiellosen Niederlage und nach der Zerstörung aller inneren Reserven die Individuen auf ihre Privatinteressen und deren kurzfristige Horizonte zurückgefallen. Was sie dort finden, ist die egalitäre Moral der Familie...“.[31] Vorangetrieben wurde der Prozeß der Zersetzung des Staatsethos durch den „Humanitarismus“ bereits einige Jahre vor der Kriegsniederlage durch so skrupellose Intellektuelle wie Karl Barth, dessen 1938 erschienene Schrift „Rechtfertigung und Recht“ Gehlen jedoch zu durchschauen meint: „Wer hier mit dem Anspruch der höheren Autorität spricht, ist klar, hier will das Ethos des Humanitarismus das des Patriotismus verschlingen...“.[32] In den 60er Jahren sind es wiederum evangelische Theologen, die anstatt sich um das Jenseits zu kümmern, zersetzende humanistische Lehren für das Diesseits in die Welt setzen.[33]

Insgesamt erscheint also das humanitäre Ethos in Gehlens historischer Perspektive als: 1. das Resultat eines politischen Zusammenbruchs mit einhergehendem Kulturverlust, 2. ein Mittel ideologisch zweckmäßiger Fremdtäuschung zum Vorteil bestimmter (Herrschafts-)Gruppen mit gleichzeitiger öffentlicher Geltungssteigerung der Intellektuellen, 3. als Merkmal und Ursache von Dekadenz.

[24] Vgl. ebda., S.80f.

[25] Ebda., S.24.

[26] Vgl. ebda., S.15.

[27] Vgl. Ebda., S.30f.

[28] Vgl. ebda., S.35.

[29] Vgl. ebda., S.81f. - Gehlen erklärt zwar nicht ausdrücklich sein Einverständnis mit Sorels These, doch Gehlen legt dem Leser mit seiner suggestiven Beschreibung der Antike genau diese These ziemlich nahe.

[30] Vgl. ebda., S.81.

[31] Ebda., S.143.

[32] Ebda., S.134.

[33] Vgl. ebda., S.121-139.

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