Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
        3.2.1 Vorüberlegung zu Gehlens Methode: Entlarvungstechnik und empirische Ethik
        3.2.2 Kritik des historischen Argumentes
        3.2.3 Kritik des politischen Argumentes
        3.2.4 Kritik des anthropologischen Argumentes
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

3.2.2 Kritik des historischen Argumentes

Von allem, was Gehlen gegen den „Humanitarismus“ vorbringt, sind seine historischen Ausführungen am wenigsten überzeugend. Zwar stimmt es, wenn Gehlen die Entstehung des antiken Humanismus der Verfallszeit der griechischen Stadtstaaten zurechnet, doch schon wenn Gehlen daraus gegenüber den Kynikern und den Stoikern den Vorwurf der opportunistischen Anbiederung an die neuen Herrscher ableitet, urteilt Gehlen ungerecht. Schließlich müßte man Zenon und Anthistenes ihre politische Meinung doch lassen, wenn sie die Großreiche für die bessere politische Ordnung halten (falls sie dies taten). Auch verwundert es, daß Gehlen sie der Entpolitisierung der Bevölkerung zeiht („für die Vielen die Lämmerweide“), wo sich Gehlen die Politisierung des Bürgers doch ohnehin nur als Inpflichtnahme durch den Staat vorzustellen weiß, an der es wohl auch Großreiche nicht gänzlich fehlen lassen werden. Weiterhin verwickelt Gehlen sich in Widersprüche, wenn er der kynisch-stoischen Ethik einerseits eine herrschaftsabstützende Absicht unterstellt und ihr gleichzeitig ihre vermeintlich dekadent-subversive Wirkung vorwirft. Historisch sehr fragwürdig ist auch Gehlens Andeutung, daß dem römischen Kaiserreich sein Humanitätsethos zu schaffen gemacht habe. Trajan, der, weil er das Feldlager liebte, auch „der Soldatenkaiser“ genannt wurde, war gewiß nicht humanitär verweichlicht. Auch sein tüchtiger Nachfolger Hadrian wußte, dadurch daß er immer wieder die Provinzen bereiste und die Grenzen befestigte, die Sicherheit des römischen Reiches zu gewähren, obwohl er anders als sein Vorgänger auf Kriegszüge und (letztenendes doch nicht zu haltende) kriegerische Erwerbungen verzichtete. Antoninus Pius wirft man vor, er habe sich zu wenig um die Provinzen gekümmert und Kriege um jeden Preis vermieden, doch mag dies vielleicht nicht weniger mit den Handlungs- und Entscheidungsgewohnheiten des ehemaligen Verwaltungsbeamten Antoninus als mit humanitärer Verweichlichung zu tun haben. Seinen Nachfolger Marc Aurel hinderten die stoischen Überzeugungen jedenfalls nicht daran, sich als tatkräftigen Kriegsherren zu beweisen.[48] In der Blütezeit des römischen Kaiserreiches war die Außenpolitik also keineswegs durch humanitäres Abschlaffen geprägt, wenn sie in ihren Zielsetzungen auch maßvoller blieb als die vorhergehenden Phasen imperialistischer Expansion. Im Innern jedoch hat das Humanitätsideal tatsächlich zu einer gewissen Humanisierung beigetragen, die Gehlen unverständlicherweise mit einem ziemlich süffisanten Unterton beschreibt.[49] Daß die politisch-ökonomische Doppelkrise im 3.Jahrhundert, so wie Gehlen durch seinen Hinweis auf die notwendig gewordenen Schutzmaßnahmen Aurelians suggeriert, eine kausale Folge der Verweichlichung durch das Humanitätsethos war, dürfte sich historisch ebenfalls kaum belegen lassen. Wendet man den Blick schließlich der Endphase des römischen Reiches zu, so ist der Verfall des Reiches nach Kaiser Konstantin vor allem durch die innere Zerrissenheit und die blutigen Rivalitätskämpfe der Nachfolger Konstantins bedingt, was dann wohl doch mehr auf Kosten des „Machtethos“ als des Humanitätsethos geht.

Der Zusammenhang von Humanismus und Dekadenz bzw. Kulturverlust scheint noch weniger vorhanden zu sein, wenn man den Renaissance-Humanismus oder den Humanismus der Aufklärung als Beispiel wählt. Gehlen schützt sich freilich vor dieser Einsicht, indem er die Aufklärung pauschal als zersetzend ablehnt.[50] In dieselbe Richtung geht auch seine Bemerkung, die Familie habe niemals etwas Großes hervorgebracht, die man sich dahingehend zu übersetzen hat, daß das Humanitätsethos, als dem Familiengeist entsprungen, kulturellen Höchstleistungen im Wege stehe. Hierzu ist zu sagen, daß die Ethik gar nicht die Aufgabe hat, die Menschen zu kulturellen Leistungen zu stimulieren. Große kulturelle Fortschritte sind, abgesehen davon, oft in Umbruchsperioden zustande gekommen, in denen eine ursprünglich vergleichsweise starre und geschlossene Gesellschaft sich liberalisierte und neuen Einflüssen öffnete (z.B. Rußland im 19.Jahrhundert, Deutschland in den 20er Jahren).

[48] Vgl. Hans-Georg Pflaum: Das römische Kaiserreich, in: Hans-Georg Pflaum / Berthold Rubin / Carl Schneider / William Seston: Rom. Die römische Welt, Frankfurt /M / Berlin 1963, S.317-428 (S.360-382).

[49] Kahrstedt ist zwar auch der Ansicht, daß die Philosophie im 2.Jh. einen zunehmend „pietistischen“ Einschlag bekommen habe, aber er hält dies nicht für eine Konsequenz des stoischen Humanitätsideales, sondern eher für eine Folge des Vordringens der orientalischen Religionen. Vgl. Ulrich Kahrstedt: Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit, Bern 1958, S.305ff.

[50] Vgl. Gehlen: Hypermoral, a.a.O., S.102.

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