Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie |
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Das Begriffpaar „kompakt-differenziert“ ist neben dem Begriff der (spirituellen) Erfahrung ein weiteres großes Feigenblatt der Voegelinschen Geschichtsphilosophie, denn mit diesem Begriffspaar kaschiert Voegelin eine Reihe von Begründungsproblemen, Unklarheiten und fragwürdigen Voraussetzungen. Der Gegensatz „kompakt-differenziert“ kann zunächst auf einer rein formalen Ebene verstanden werden. Aber es zeigt sich rasch, dass die formale Bedeutung nicht ausreicht, um alle Funktionen dieses Gegensatzpaares zu rechtfertigen.
Auf der formalen Ebene bedeutet Differenzierung das Auseinandertreten von zuvor wesensmäßig nicht unterschiedenem Sein in unterschiedliche Seinsklassen. Insbesondere im Auseinandertreten von immanentem weltlichen und transzendentem göttlichen Sein sieht Voegelin einen bedeutenden Differenzierungsfortschritt. In etwas stärkerer Anlehnung an die Bewusstseinsphilosophie kann die Essenz der formalen Bedeutungsebene dieses Begriffspaares in etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: Zunächst findet sich der Mensch vor einer verwirrenden Vielfalt von Bewusstseinserlebnissen wieder. Erst nach und nach und unter großen Unsicherheiten lernt der Mensch das Innere vom Äußeren, das Transzendente vom Immanenten und die immanenten Dinge voneinander zu unterscheiden.[74] Soweit beschreibt der Begriff der Differenziertheit lediglich gewisse phänomenale Eigenschaften von Weltauffassungen.
Unzulänglich bleibt der rein formale Differenzierungsbegriff, weil es auf der phänomenalen Ebene oft der Willkür überlassen bleibt, was als kompakt und was als differenziert bezeichnet wird. So vertritt Voegelin beispielsweise die Ansicht, dass der Monotheismus wegen der deutlicheren Erkenntnis des welttranszendenten Charakters des Göttlichen differenzierter ist als der Polytheismus.[75] Aber ebensogut könnte man behaupten, dass der Polytheismus differenzierter ist, weil im Polytheismus die vielfältigen Funktionen des undifferenziert Göttlichen des Monotheismus deutlich auf eine Vielzahl von Göttern verteilt sind. Das Begiffspaar „kompakt-differenziert“ drückt auf dieser Bedeutungsebene ähnlich wie viele andere abstrakte Begriffspaare (z.B. „formal-material“) lediglich einen Unterschied aus, ohne diesen zu qualifizieren.
Damit die Unterscheidung zwischen kompakten und differenzierten Symbolismen zu wertenden Vergleichen, wie Voegelin sie anstellt, herangezogen werden kann, müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein: Die verglichenen Symbolismen müssen sich auf denselben Gegenstand beziehen, damit ein Vergleich stattfinden kann, und es muss ein gültiger Bewertungsmaßstab vorhanden sein, um die Bewertung der Symbolismen durchzuführen.
Die Voraussetzung, dass sich die verglichenen Symbolismen auf den gleichen Gegenstand beziehen müssen, ist nicht schon dann erfüllt, wenn beide Symbolismen eine Antwort auf dieselbe Herausforderung geben, etwa auf die Frage nach dem Sinn der Welt oder nach dem Wesen Gottes. An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Voegelin ist der Ansicht, dass die christliche Gnadenlehre gegenüber dem bei Platon und Aristoteles vorherrschenden Gottesverständnis eine Differenzierung darstellt, da bei den griechischen Philosophen Gott bloß Ziel menschlicher Sehnsucht ist, während nach christlichem Verständnis Gott dieser Sehnsucht durch die Gnade auch entgegen kommt.[76] Gegen dieses Argument liegt freilich der Einwand nahe, dass es sich hier um unterschiedliche Gottesvorstellungen handelt, und dass nach der griechischen Vorstellung Gott nun einmal nicht die Eigenschaft der Gnade besitzt. Das christliche Verständnis scheint also eher eine Modifikation als eine Differenzierung darzustellen. Der Gebrauch des Ausdruckes „Differenzierung“ kann genaugenommen nur dann als voll gerechtfertigt betrachtet werden, wenn der differenziertere Symbolismus nichts anderes ausdrückt als das, was im kompakteren Symbolismus bereits gemeint aber noch unvollkommen ausgedrückt ist. Es braucht wohl kaum dargelegt werden, dass dies im Einzelfall äußerst schwierig nachzuweisen sein dürfte, sofern man nicht dogmatisch unterstellt, dass ohnehin alle Symbolismen nur denselben vorgegebenen Bestand von Erfahrungen ausdrücken, die genau zu kennen sich der Interpret zudem anmaßen muss.[77]
Nicht weniger dunkel bleibt, woher Voegelin die Bewertungsmaßstäbe nimmt, nach denen er die verschiedenen Symbolismen beurteilt. Selbst wenn man bei dem eben angeführten Beispiel einmal annimmt, dass sich beide Gottesvorstellungen nachweisbar auf dieselbe religiöse Erfahrung stützen, so fehlt immer noch jeder Anhaltspunkt, aus dem heraus die christliche Gnadenlehre im inhaltlich-wertenden Sinne als differenzierterer Ausdruck der zugrunde liegenden religiösen Erfahrung beurteilt werden kann als die Gottesvorstellung der griechischen Philosophen. Wie auch bei anderen methodischen Problemen hat es den Anschein, dass Voegelin glaubt, diese Frage im Einzelfall ad-hoc, durch genaues Hinschauen und ein wenig Genialität in evidenter Weise beantworten zu können.
[74] Vgl. Order and History I, S. 3.
[75] Vgl. Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, S. 25.
[76] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 113-114.
[77] Vgl. auch Eugene Webb: Philosophers of Consciousness. Polanyi, Lonergan, Voegelin, Ricoeur, Girard, Kierkegaard, Seatle and London 1988, S. 126ff.