Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
    3.1 Voegelins theoretischer Ansatz
    3.2 Voegelins Geschichtsdeutung
        3.2.1 Geschichte als Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit
        3.2.2 Exkurs: Die Begriffe „Kompaktheit“ und „Differenzierung“
        3.2.3 Der Sinn der Geschichte
    3.3 Gnosisbegriff und Zeitkritik
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

3.2.1 Geschichte als Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit

Voegelins Geschichtsphilosophie ist im wesentlichen die einer Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte. Anders als die Fortschrittsgeschichten beispielsweise der Aufklärer ist Voegelins Fortschrittsgeschichte jedoch eine Geschichte des spirituellen und nicht des moralischen oder technischen Fortschritts. Dieser Geschichte des spirituellen Fortschritts liegt allerdings ein ahistorischer Kern in Form einer religiös-existenzialistischen Metaphysik zu Grunde, die Voegelins Auffassung von der existenziellen Situation des Menschen widerspiegelt: Der Mensch findet sich in einer Welt wieder, deren Sinn er nicht kennt. Er ist sich zwar dunkel bewusst, dass er in dieser Welt eine Rolle zu spielen hat, die er nicht selbst bestimmen darf, dennoch weiß er nicht, was für eine Rolle dies ist. Anfänglich kann er diese Rolle nur schwach ahnen, doch er glaubt, dass sie etwas mit der Ordnung des Seins zu tun hat.[69] Das Trachten des Menschen zielt nun darauf ab, diese Ordnung zu finden und seine eigene Existenz sowie die Ordnung der Gesellschaft in Einklang mit ihr zu bringen, weil er hofft, dadurch seiner flüchtigen Existenz etwas mehr Dauerhaftigkeit zu verleihen. Die Suche nach der Ordnung des Seins bestimmt nun die Entwicklung der Geschichte. Die Dynamik dieser Entwicklung entspringt den wechselnden Auffassungen davon, was die richtige Ordnung des Seins ist. Da der Mensch die wahre Ordnung des Seins nur ahndungsvoll spüren kann, ist es ihm nicht möglich, seiner Auffassung von der richtigen Ordnung anders Ausdruck zu verleihen als dadurch, dass er sein Gefühl der Ordnung bzw. seine Ordnungserfahrung durch Analogien in Symbole fasst. Aus den solcherart artikulierten Ordnungsauffassungen bestehen die bereits erwähnten Symbolismen. In der geschichtlichen Abfolge der Symbolismen glaubt Voegelin nun einen Fortschritt erkennen zu können, der, wie Voegelin es nennt, von „kompakteren“ zu „differenzierteren“ Symbolismen führt.[70]

Der Fortgang von einem Symbolismus zum nächsten tritt oft plötzlich und sprunghaft infolge neuer spiritueller Erlebnisse einzelner Personen ein, die Voegelin als „spirituelle Ausbrüche“ bezeichnet und die sich von den Menschen, denen sie widerfahren, auf den Rest der Gesellschaft übertragen (sofern dieser nicht gerade an einer törichten Verstocktheit leidet). Wenn der Übergang sehr plötzlich eintritt und der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Symbolismus besonders groß ist, dann spricht Voegelin von einem „Sprung im Sein“.[71] Ein solcher „Sprung im Sein“ fand zum Beispiel statt, als Moses das Volk Israel aus Ägypten führte, denn dabei wurde - abgesehen davon, dass dieses Ereignis die Geburtsstunde des Monotheismus war - der kosmische Symbolismus, welcher typischerweise mit einer zyklischen Geschichtsauffassung verbunden ist, durch den völlig neuartigen historischen Symbolismus ersetzt.[72] Später hat Voegelin diese Auffassung allerdings teilweise revidiert, nachdem er festgestellt hatte, dass unabhängig von diesem einmaligen Ereignis auch andere Völker auf die Idee gekommen waren, die Geschichte nicht nur zyklisch zu betrachten.[73] Weitere wichtige Übergänge sind für Voegelin unter anderem die Entwicklung vom Judentum zum Christentum und der Übergang von der Mythologie zur Philosophie im antiken Griechenland. Wenn Voegelin in diesen Übergängen einen Fortschritt sieht, so stellt sich natürlich die Frage, was die nachfolgenden Symbolismen gegenüber den vorhergehenden als überlegen auszeichnet. Warum ist die mosaische Religion der ägyptischen überlegen, und was verleiht dem Christentum vor dem Judentum den Vorzug, fortschrittlicher zu sein? Voegelin versucht meist, solche Wertungen mit der Behauptung der größeren Differenziertheit des seiner Ansicht nach besseren Symbolismus zu begründen. Da dem Konzept der Differenzierung für Voegelins Vorstellung vom Fortschritt (oder auch gelegentlichem Rückschritt) der Geschichte eine zentrale Bedeutung zukommt, soll es etwas ausführlicher untersucht werden.

[69] Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 1/2.

[70] Die Einleitung von Order and History I legt die Auffassung nahe, dass es stets dieselbe Seinserfahrung ist, die nur unterschiedlich vollkommen artikuliert wird. (Vgl. Voegelin, Order and History I, S.1-11.) Im Schlusskapitel von „Anamnesis“ unterscheidet Voegelin dann unterschiedlich differenzierte Ordnungserfahrungen. Nur das Sein (bzw. die Realität) bleibt dasselbe, und sogar dies gilt nur unter Einschränkungen. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 286ff.)

[71] Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 123. Dort definiert Voegelin den Begriff „Sprung im Sein“ als die „Entdeckung des transzendenten Seins als die Quelle der Ordnung im Menschen und der Gesellschaft“ (meine Übersetzung, E.A.). Nach dieser Definition dürfte es (wenigstens innerhalb der Geschichte einer Zivilisation) eigentlich nur einen einzigen „Sprung im Sein“ geben. Allerdings gebraucht Voegelin den Ausdruck auch häufig als Synonym für „spiritueller Ausbruch“.

[72] Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 116ff.

[73] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 79ff. - Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Four. The Ecumenic Age, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1974), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History IV, S. 7-13.

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