Der Einsatz evolutionärer Computermodelle bei der Untersuchung historischer und politischer Fragestellungen

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Evolutionäre Erklärungen
    2.1 Eine allgemeine (axiomatische) Evolutionstheorie als Grundlage
    2.2 Die Anwendung der allgemeinen Evolutionstheorie auf kulturwissenschaftliche und historische Fragestellungen
3 Computermodelle zur Simulation evolutionärer Vorgänge
4 Beispiele für evolutionäre Erklärungsansätze im Bereich der Kulturwissenschaften
5 Zitierte Literatur
6 Anhang: Programmcode des Computerturniers

2.2 Die Anwendung der allgemeinen Evolutionstheorie auf kulturwissenschaftliche und historische Fragestellungen

Bei der Erklärung historischer Vorgänge fällt die eben erwähnte Schwierigkeit zum Glück weniger gravierend aus, da es sich hierbei um ex-post Erklärungen handelt, womit die Existenzmöglichkeit des zu Erklärenden zwangsläufig gegeben ist. Dennoch besteht ein wichtiger Unterschied darin, ob erklärt werden soll, warum eine soziale Insitution funktioniert, oder ob erklärt werden soll, wie sie entstehen und sich durchsetzen konnte. Das Funktionieren einer sozialen Insitution kann (ohne Zirkelschluss) nicht allein durch ihre evolutionäre Entstehung erklärt werden. Umgekehrt ist mit dem Nachweis der Funktionstüchtigkeit oder der Zweckmäßigkeit bestimmter sozialer Insitutionen noch nicht erklärt, wie und warum sie entstehen konnten. Denkbar ist aber, dass das die Entstehung generell leistungsfähiger sozialer Institutionen dadurch erklärt werden kann, dass die Bedingungen für evolutionäre Entwicklungsprozesse im Sine der axiomatischen Evolutionstheorie gegeben sind, da derartige Prozesse dort, wo dies möglich ist, vergleichsweise rasch zur Herausbildung „quasi-teleologischer“ Formen führen. Eine solche Erklärung wird weiter unten am Beispiel der von Eric L. Jones (Jones 1981) gebenen Begründung für den historischen „Erfolg“ des europäischen Kontinents erörtert werden.

Zur Beantwortung der Frage, ob eine axiomatische Evolutionstheorie wie die oben skizzierte bereits hinreichend gehaltvoll ist, um die Herausbildung leistungsfähiger sozialer Institutionen wenigstens im Prinzip zu erklären, müsste ausserdem noch genauer untersucht werden, ob evolutionäre Prozesse, die diesen vier Axiomen genügen, bereits mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zur Herausbildung „quasi-teleologischer“ Formen führen. Man könnte dazu den durch diese Axiome beschriebenen evolutionären Prozess als einen Optimierungsalgorithmus auffassen und Überlegungen zu dessen Effizienz anstellen (vgl. Axelrod 1997, 10ff., vgl. Wagner 1994). Darüber hinaus könnte man die Frage aufwerfen, ob die oben beschriebene Evolutionstheorie nicht speziell für den Bereich der Kulturwissenschaften noch weiter verfeinert könnte.

Für den Bereich der biologischen Evolution ist dies möglich, indem man die Merkmale genetischer Vererbung und Entwicklung durch weitere Axiome näher eingrenzt (vgl. Schurz 1998, 329ff.). Für die Beschreibung kultureller Evolutionsprozesse wäre ein ähnliches Vorgehen denkbar, etwa indem man versucht, die Reproduktions- und Selektionsbedinungen von Kulturtechniken (Normen, Institutionen, Technologien) durch Gesetzmäßigkeiten genauer zu erfassen. Ein erster Ansatz müsste in der Untersuchung der Frage bestehen, wie sich Kulturtechniken durchsetzen. Grundsätzlich kann dies auf zweierlei Weise geschehen: 1. indem die Gesellschaften, die sie angenommen haben, andere Gesellschaften, die nicht darüber verfügen, verdrängen (durch Krieg, Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen etc.) 2. indem Gesellschaften, die noch nicht über eine bestimmte Kulturtechnik verfügen, sie von einer anderen Gesellschaft, die sie bereits besitzt, erlernen (was wiederum auf zweierlei Weise geschehen kann: dadurch dass die Kulturtechnik selbst oder dadurch dass Idee ihrer Möglichkeit weitergegeben wird (vgl. Diamond 1998, S.215ff.)). Wenn es nun gelänge, über die Geschwindigkeit der Ausbreitung von Kulturtechniken auf diesen Wegen genauere Aussagen zu treffen, so erscheint es zumindest im Prinzip denkbar - analog etwa zu den populationsdynamischen Gesetzen in der biologischen Evolution - Gesetzmäßigkeiten für die Verbreitung von Kulturtechniken aufzustellen, wenn auch in den Kulturwissenschaften nicht dieselbe Genauigkeit der Vorhersagen erwartet werden darf.

Um einen entsprechenden historischen Entwicklungsvorgang nun mit Hilfe der allgemeinen Evolutionstheorie erklären zu können, müssen im wesentlichen drei Bedingungen erfüllt sein:

  1. Die Voraussetzungen für einen evolutionären Prozess müssen gegeben sein, d.h. es muss gezeigt werden, dass für den beschriebenen Vorgang mindestens die vier Grundaxiome der allgemeinen Evolutionstheorie (V, R, S und UST) erfüllt sind und gegebenenfalls noch weitere Bedingungen, die speziell für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungsprozesse gelten.
     
  2. Das Ergebnis des historischen Vorgangs muss nach Maßgabe dieser Axiome, insbesondere der Selektionsbedingungen, auch wahrscheinlich gewesen sein. Sonst wäre die Hypothese, dass bei dem untersuchten Vorgang ein evolutionärer Prozess im Sinne der axiomatischen Evolutionstheorie stattgefunden hat, bereits widerlegt.
     
  3. Der evolutionäre Prozess muss nachgewiesen werden, indem die Zwischenstadien dieses Prozesses identifiziert werden. Falls die historischen Quellen lückenhaft sind, muss zumindest die Möglichkeit solcher Zwischenstadien dargelegt werden können.

Nur wenn alle drei Bedinungen erfüllt sind, kann die evolutionäre Erklärung eines historischen Vorganges als vollständig gelten. Wird eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, so ist die evolutionäre Erklärung entweder falsch (wenn Bedingung 1 oder 2 verletzt wird) oder sie bleibt eine bloße Behauptung (sofern Bedingung 3 nicht erfüllt ist).

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