Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie
3 Die Kernelemente von Kants Friedenskonzept
4 Ist Kants Friedenskonzept noch gültig ?
    4.1 Das „Kantsche Theorem“ auf dem Prüfstand
    4.2 Politische Öffentlichkeit und Welthandel als friedensfördernde Faktoren
    4.3 Was kann die UNO als Friedensbund leisten?
    4.4 Kants vernünftiger Moralismus
5 Der „ewige Frieden“ als unvollendete Aufgabe
6 Literatur

4.2 Politische Öffentlichkeit und Welthandel als friedensfördernde Faktoren

Wie verhält es sich mit den beiden anderen Faktoren, der politischen Öffentlichkeit und dem Handel, die die Friedensneigung von Staaten nach Kants Ansicht positiv beeinflussen? Was die politische Öffentlichkeit betrifft, so steht heutzutage außer Frage, wie wichtig die freie und öffentliche Meinungsbetätigung für die Kontrolle der Herrschaft, die Aufdeckung von Missständen im politischen und gesellschaftlichen System und für die Ideengenerierung ist. Aber ist die politische Öffentlichkeit notwendig friedensfördernd? Kants Überzeugung ruht auf einem moralischen Intellektualismus, der oft in Zweifel gezogen wird. Die Argumente, die dabei gegen Kant ins Feld geführt werden, sind unter anderem folgende: Kant überschätze die Aufgeklärtheit und Einsichtigkeit der Menschen. Spätestens seit der Entwicklung der Massenmedien habe sich gezeigt, in wie hohem Maße die öffentliche Meinung manipulierbar sei, was sich insbesondere im Zusammenhang mit ideologischen Massenbewegungen verheerend auswirken könne. Schließlich sei auch die öffentliche Meinung fehlbar und von Eigeninteressen durchsetzt.[26]

In der Tat erscheint Kants Vorstellung von den Philosophen oder politischen Intellektuellen, die in öffentlicher Diskussion, aber unabhängig vom Tagesgeschehen und ohne unmittelbar damit verbundene Eigeninteressen die Grundsätze ausbilden, die eine kluge Politik sich dann gegebenenfalls zu Herzen nehmen kann,[27] etwas naiv. Derartige Diskussionen finden oft eher in einer wenig beachteten Fachöffentlichkeit statt, was freilich nicht bedeutet, dass sie auf Dauer wirkungslos bleiben müssen. Die politische Öffentlichkeit im engeren Sinne, wie sie von Tagespresse, Fernsehen, Rundfunk und Internet gebildet wird, ist dagegen sehr viel stärker durch das Tagesgeschehen geprägt, und sie ist - anders kann es auch gar nicht sein - im Wesentlichen Ausdruck der unterschiedlichen Eigeninteressen und der vielfältigen moralischen Standpunkte in einer Gesellschaft. Dadurch sind der Wirkung der politischen Öffentlichkeit als moralisches Tribunal natürliche Grenzen gesetzt. Noch schwerer wiegt, dass man sich auf die Aufgeklärtheit der Meinungsführer, Philosophen und Intellektuelle eingeschlossen, keineswegs verlassen kann. Sie unterliegt vielmehr Schwankungen und Moden, wie die Popularität irrationaler Strömungen in der kontinentaleuropäischen Philosophie der Zwischenkriegszeit - von Julien Benda so treffend als der „Verrat der Intellektuellen“ angeprangert[28] - ebenso vor Augen führt wie der heute in arabischen Ländern gerade unter oppositionellen Intellektuellen sehr populäre islamische Fundamentalismus.

Aber nicht alle der oben aufgeführten Einwände gegen Kant erweisen sich als durchschlagend. Insbesondere der Hinweis auf die Manipulierbarkeit der Öffentlichkeit durch moderne Medien und auf den Sog ideologischer Massenbewegungen unterschlägt die wesentliche Voraussetzung Kants, dass die Meinungsbetätigung frei sein muss. Dem müsste man unter heutigen Bedingungen allerdings noch die Einschränkung hinzufügen, dass die Medienlandschaft nicht monopolisiert sein darf. Ist dies aber gegeben, dann können auch die modernsten Medien kaum zu breit angelegter Massenmanipulation missbraucht werden. Ideologische Massenindokrination als charakteristisches Merkmal (totalitärer) Diktaturen widerspricht nicht Kants Ansichten über die Bedeutung der freien politischen Öffentlichkeit für die Zähmung des Krieges, sondern unterstreicht ganz im Gegenteil die Wichtigkeit einer pluralistischen Öffentlichkeit.

Auch hinsichtlich der friedensfördernden Wirkungen des Handels kann Kants Ansicht mit einigen Differenzierungen als nach wie vor bestätigt angesehen werden. Ohne systematische empirische Untersuchungen zu dieser Frage[29] kann zumindest festgehalten werden, dass enge Handelsbeziehungen eine Interessenlage schaffen, die als ein Faktor unter anderen in Richtung auf Friedenserhaltung wirken kann.[30] Andererseits darf die Wirkung dieses Faktors nicht überschätzt werden. Die Wichtigkeit, die Handelsinteressen in den politischen Entscheidungszentren beigemessen wird, kann - unabhängig von ihrer objektiven Bedeutung - größer oder geringer ausfallen. So hinderten beispielsweise die ausgeprägten Wirtschaftsbeziehungen, die zwischen den europäischen Großmächten am Vorabend des Ersten Weltkriegs herrschten, diese Mächte keineswegs daran, in diesen Krieg einzutreten, und einen auch für die späteren Sieger wirtschaftlich überaus ruinösen Krieg vier Jahre lang fortzuführen.

[26] Vgl. Hans Ebeling: Kants „Volk von Teufeln“, der Mechanismus der Natur und die Zukunft des Unfriedens, in: Klaus-Michael Kodalle (Hrsg.): Der Vernunft-Frieden. Kants Entwurf im Widerstreit, Würzburg 1996, S.87-94 (S.92-93). - Vgl. Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens, a.a.O., S.15-17.

[27] Vgl. Kant, Friedensschrift, Anhang, II., S.368-369.

[28] Vgl. Julien Benda: La Trahison des clercs, Paris 1977 (zuerst 1927), S.195ff.

[29] Vgl. dazu Ernst-Otto Czempiel: Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung außenpolitischer Theorien von Machiavelli bis Madariaga, 2. Aufl., Westdeutscher Verlag, Opladen / Wiesbaden 1998, im Folgenden zitiert als Czempiel: Friedensstrategien, S.226.

[30] Vgl. Czempiel, Friedensstrategien, S.225.

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