Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie
3 Die Kernelemente von Kants Friedenskonzept
4 Ist Kants Friedenskonzept noch gültig ?
5 Der „ewige Frieden“ als unvollendete Aufgabe
6 Literatur

1 Einleitung

Kants berühmte Aussprüche, dass jeder Philosoph seine Philosophie auf den Trümmern der Systeme seiner Vorläufer aufbaut, und dass man nicht die Philosophie, wohl aber das Philosophieren lehren könne, scheinen sich mittlerweile auch für seine eigene Philosophie bewahrheitet zu haben: Kants Philosophie wirkt inzwischen veraltet. Dieser Eindruck muss sich einstellen, wenn man die modernen philosophischen Debatten verfolgt, worin Kant in der Erkenntnistheorie fast überhaupt keine, in der Ethik allenfalls als Inspirator noch eine Rolle spielt. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ - zweifellos eine der bedeutendsten erkenntnistheoretischen Leistungen ihrer Zeit - ist mit den jüngeren Entwicklungen in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik nur noch schwer vereinbar.[1] Wer heute eine Antwort auf die Frage „Was kann ich wissen?“ sucht, wird sich eher der modernen analytischen Philosophie zuwenden als bei Kant nachzuschlagen. In ähnlicher Weise verlieh Kant zwar in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ dem Gedanken der Menschenwürde und des unveräußerlichen Wertes eines jeden einzelnen Menschen klassischen Ausdruck, scheiterte jedoch bei dem Versuch, dass zentrale Prinzip seiner Moralphilosophie, den kategorischen Imperativ, philosophisch zu beweisen.[2] Heutzutage scheint Kants Moralphilosophie weitgehend, wenn auch nicht vollständig, vom Utilitarismus verdrängt worden zu sein.

Es gibt jedoch ein Feld des philosophischen Denkens, auf dem Kants Philosophie nach wie vor von unbestrittener Aktualität ist. Man könnte sogar sagen, dass Kants Philosophie auf diesem Gebiet heute aktueller ist, als sie es in der Zeit unmittelbar nach seinem Tod gewesen ist. Die Rede ist von Kants politischer Philosophie, besonders seiner Theorie der internationalen Beziehungen, wie er sie am prägnantesten in der Schrift „Zum ewigen Frieden“[3] ausgedrückt hat. Kants Friedenskonzept soll im Folgenden sowohl in seiner historischen Bedeutung als auch hinsichtlich seiner heutigen Gültigkeit im Lichte der historischen Erfahrungen der letzten 200 Jahre untersucht werden.

[1] Wenn Kants Theorie der Mathematik und insbesondere seine Theorie von Raum und Zeit richtig wäre, hätten weder nicht-euklidische Geometrien konzipiert noch erst recht die auf einer nicht-euklidischen Geometrie beruhende Relativitätstheorie empirisch bestätigt werden können. Ähnliches gilt für die Quantentheorie. Andererseits gibt es auch in der modernen Erkenntnistheorie Ansätze, die zumindest weitläufig in ein kantianisches Paradigma eingeordnet werden können, wie z.B. Bertrand Russells (vergleichsweise wenig bekanntes) Spätwerk „Human Knowledge“.

[2] An der entscheidenden Stelle in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (§7 des ersten Teils des ersten Buches des ersten Hauptstückes) beruft sich Kant, anstatt den nach aufwendiger Vorbereitung nunmehr fälligen Beweis zu liefern, nur noch auf ein Faktum der Vernunft. Schon vorher unterläuft Kant in seiner Argumentation ein schwerwiegender Fehler: Die Unterscheidung zwischen kategorischem Imperativ und hypothetischen Imperativen ist nicht - wie Kant voraussetzt - ausschöpfend. Ein Satz wie “Esst keine Bohnen“ (Empedokles) ist zweifellos ein Imperativ, aber er ist weder ein hypothetischer Imperativ im Sinne einer Zweck-Mittel-Verknüpfung noch entspricht er offensichtlich Kants kategorischem Imperativ, von dem Kant sagt, dass es nur einen einzigen geben könne (obwohl er selbst davon drei keineswegs äquivalente Formulierungen liefert).

[3] Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band VIII, Berlin 1968, S.341-386, im Folgenden zitiert als: Kant, Zum Ewigen Frieden.

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